Ein Löwe oder durchbohrte Hände?

Ein Löwe oder durchbohrte Hände?

Wie neue Handschriften den Hinweis auf die Kreuzigung im Alten Testament bestätigen

 

Einer der umstrittensten Verse der Bibel, in denen es einen Hinweis auf Jesus im Alten Testament gibt, steht in Psalm 22,17. Er lautet so:

 

„Denn Hunde haben mich umgebe, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt. Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben.“

Ps 22,17 (Elberfelder)

Es ist der letzte Satzteil, der zu den Schwierigkeiten führt: Der hebräische Text ist so, wie er in der traditionellen Version (dem masoretischen Text) vorliegt, kaum sinnvoll übersetzbar und würde etwas in dieser Art führen:

 

„eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt, wie der Löwe meine Hände und meine Füße.“

Dagegen liest die Septuaginta (die frühe Übersetzung ins Griechische) diesen Text so:[1]

 

„Denn umschlossen haben mich viele Hunde, die Versammlung der Übeltäter hat mich umgeben, durchstochen haben sie meine Hände und Füße.“

Das Problem wird natürlich dadurch verschärft, dass es sich um einen der Verse handelt, die in prophetischer Weise auf Jesus hinweisen. Der Zankapfel ist dieser: Ist dieser Vers ein prophetischer Hinweis auf die Kreuzigung Jesu oder nicht? Genau diese Frage steht hier zur Diskussion. Verständlicher Weise gibt es eine große Diskussion darum, was hier denn ursprünglich im hebräischen Text stand.

 

Das Erlebnis des Gesalbten

Es handelt sich um einen Psalm von David (Ps 22,1), der eine Notzeit beschreibt, die David selbst erlebt haben muss. Doch so, wie David „der Gesalbte“ – auf Hebräisch „der Messias“ und auf Griechisch „der Christus“ war, so wird er hier zum Muster für den Gesalbten schlechthin, den wir einfach den Messias oder den Christus nennen, also Jesus. Und so kommt es, dass vieles von dem, was in diesem Psalm steht, auch für Jesus gilt. Was David erlebt und formuliert, wird gleichzeitig Vorschattung auf Jesus und damit Prophetie.

Zwei Positionen treffen hier aufeinander: Einerseits behaupteten die frühen Christen, die die Septuaginta verwendeten, dass hier ein Hinweis auf Jesus enthalten sei. Dabei stand der Hebräische Text im Verdacht, später bewusst abgeändert worden zu sein. Die Gegenstimme dazu behauptete, dass die frühen Christen es waren, die den Text absichtlich manipuliert hätten, damit er auf Jesus passt. Was stimmt also? Geht es um einen Löwen oder um einen Durchbohrten?

 

Der Fund neuer Manuskripte

Lange Zeit folgten Bibelübersetzungen dem masoretischen Text, weil dieser allgemein eine hohe Qualität hat. Also wurde mit „wie einem Löwen“ übersetzt. Doch jetzt neigt sich die Waagschale deutlich in Richtung der messianischen Bedeutung „durchstochen“. Denn in den Höhlen um Qumran in der Wüste vom Toten Meer fand man gleich zwei Manuskripte, die diesen Text enthalten und für seine Ursprünglichkeit sprechen. Die Diskussion um diesen Fund ist noch relativ jung, denn das entsprechende Fragment wurde erst 2010 editiert.[2] Erst jetzt fließt sie in Kommentare und Bibelübersetzungen ein.

 

Das erste Fragment

Einer dieser Texte aus Nachal Chever (5/6Hev XI, 9) ist zwar nicht ganz eindeutig zu lesen, hat aber aller Wahrscheinlichkeit nach hier nicht den „Löwen“, sondern eine Verbform, die sonst „graben“ meint. Zu dem Fragment gibt es zwei Diskussionspunkte: Der letzte Buchstabe des umstrittenen Wortes kann entweder ein Yod sein, dann stände da „wie der Löwe“. Er könnte aber auch ein Waw sein, dann kann das Wort auf keinen Fall den Löwen meinen. Auch wenn die beiden Buchstaben früher häufig sehr ähnlich geschrieben wurden und eine Verwechslungsgefahr bestand, ist das bei der Handschrift des Schreibers dieses Fragmentes nicht der Fall. Auf dem kleinen Fragment sind auch andere Beispiele von Yods und Waws zu erkennen, die den umstrittenen Buchstaben als Waw ausweisen.[3] Hier steht also nicht der „Löwe“.

 

Künstlerische Nachahmung der wichtigen Zeile aus dem Qumran-Manuskript 5/6Hev

 

Der zweite Diskussionspunkt besteht darin, dass für die Deutung „graben“ ein Buchstabe (ein Aleph) zu viel in dem umstrittenen Wort steht. Kann es also wirklich das Verb „graben“ meinen? Die Antwort ist wahrscheinlich: Ja, es kann. Denn die Einfügung eines solchen Alephs, die die Bedeutung nicht ändert, ist auch an anderen Stellen der Bibel und auch in Qumran belegt. Es handelt sich also wahrscheinlich einfach um eine alternative Schreibweise des entsprechenden Verbes nach einem Muster, das man aus anderen Fällen schon kennt.

 

Das zweite Fragment

Der andere Text (4Q88, I-II, 2,24-25) ist leider auch nur teilweise erhalten und fehlt der letzte Buchstabe (das umstrittene Yod/Waw). Dafür zeigt der Text aber eindeutig, dass hier kein Aleph steht. Der Löwe ist also ausgeschlossen und das Wort kann nur als Verb mit einer Bedeutung wie „graben“ verstanden werden.

 

Eine breite Bestätigung

Auch wenn man keine letzte Sicherheit haben kann, neigt sich die Waagschale damit heute deutlich in Richtung „durchgraben/durchstochen“. Denn nicht nur die zwei Qumranfragmente, sondern auch einige Manuskripte des hebräischen Textes, die syrische Übersetzung und die Septuaginta weisen nun einmütig in diese Richtung. Dagegen steht zwar nach wie vor der masoretische Text, doch auch dieser ist nicht eindeutig: Es gibt sogar Handschriften des masoretischen Textes, die hier „durchgraben“ haben und sogar in den Texten, die den Löwen haben, weist eine Randnotiz auf eine besondere Bedeutung in Ps 22,17 hin.[4]

 

Ein Hinweis aus dem Kontext

Schließlich weist auch der Kontext der Stelle in Psalm 22,17 darauf hin, dass hier vermutlich kein Löwe gemeint ist. Der Psalm redet von einer großen Not, von Erniedrigung, Schmerzen und Leid. Das wird in dem mittleren Abschnitt des Psalms durch Vergleiche mit wilden Tieren deutlich, die eine Chiasmus (als eine konzentrische Struktur) erkennen lassen:[5]

A Umgeben von Stieren (V. 13)

B Das Maul des Löwen (V. 14)

C Hunde (V. 17a)

D Mittelpunkt (V. 17b-20): Leiden eines Menschen

        • Hände und Füße durchbohrt
        • Gebeine zertrennt
        • verächtliches Anschauen
        • Kleider verteilt

C‘ Hunde (V. 21)

B‘ Der Rachen des Löwen (V. 22a)

A‘ Umgeben von Stieren (V. 22b)

Trotz der Tiermetaphern steht das Leiden eines Menschen im Mittelpunkt der Struktur – und überhaupt in der Mitte des ganzen Psalms –, das in mehreren Sprachbildern vorgestellt wird. In diesem Zentrum ist nicht mehr nur eine einzelne Tierart gemeint (wie ein Löwe), sondern alle gefährlichen Tiere aus den vorangegangenen Versen zusammengedacht. Wenn man in V. 17 nicht den „Löwen“ übersetzt, reiht sich das Durchbohren der Hände und Füße besser in die anderen Vergleiche ein, und stellt vier Aspekte der Erniedrigung in den Mittelpunkt der Struktur

Damit kristallisiert sich immer deutlicher heraus, wie passend es ist, diesen Vers als eine Art Prophetie auf Jesus und das Kreuz zu verstehen. Dennoch gibt es eine letzte Schwierigkeit.

 

Kann man Hände „durchgraben“?

Der Löwe macht nicht viel Sinn – aber macht der Text „sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben“ mehr Sinn? Denn schließlich ist „graben“ die Bedeutung, die von hebräischen Wörterbüchern zu dem entsprechenden Wort angegeben werden. Wie kann man durchgrabene Hände verstehen? Diese Bedeutung führt dazu, dass viele doch den masoretischen Text vorziehen oder überlegen, ob das hebräische Wort entweder ein bisher unbekanntes Wort für „durchstechen“ oder „durchbohren“ ist, oder man es hier vielleicht mit einer Bedeutung wie „gebunden“ zu tun hat.[6]

 

Rohe Gewalt

Trotz dieser Vorbehalte gibt es gute Gründe dafür, dass diese drastische Sprache, über die man unwillkürlich stolpert, gewollt ist. Die Wortreihenfolge in Ps 22,17b ist nämlich so gewählt, dass das Verb mit seiner drastischen Bedeutung am Anfang des Verses steht – wörtlich also heißt es: „Durchgraben haben sie meine Hände“! Es ist ein Ausruf, der das drastische Wort in aller seiner Schonungslosigkeit zur Geltung bringt. Was hier formuliert wird, klingt nach Skandal, nach unvorstellbarer Rohheit und eskalierter Gewalt. Wenn man also den Eindruck hat, dass die Umzingelung von Übeltäten doch noch weit entfernt von einem „durchgraben“ der Hände ist, dann ist dieser Eindruck nicht ganz falsch. Denn was hier formuliert wird, geht über eine normale Anfeindung weit hinaus, und genau das macht der Satz deutlich. Es ist wie ein Ausrufezeichen, wie ein Protest gegen diesen ungebändigten Hass, der aus den Worten spricht. Wie auch soll man sich das vorstellen? Vielleicht ist an die „Rotte“ wilder Tiere gedacht, die mit ihren Zähnen nach Händen und Füßen schnappen und sie mit ihrem Gebiss durchfurchen? Möglich wäre das, denn im Mittelpunkt des Psalms steht so, wie eine „Rotte“ (V. 17) wilder Tiere über einen Menschen herfallen. Allein dieses Sprachbild sagt etwas aus. Hier geht es nicht um das, was Menschen einem Menschen antun, sondern um tierische, animalische, rohe Gewalt.[7] Das macht es durchaus plausibel, dass hier ein besonders drastisches Wort verwendet wird.

 

Eine noch bessere Alternative

Allerdings gibt es noch einen anderen Gesichtspunkt: Es gibt nämlich Gründe dafür, dass das hier verwendete Wort an dieser Stelle besser mit „durchbohren“ übersetzt wird. Dazu muss man verstehen, wie Wörterbücher arbeiten: Ein Wörterbuch ist keine Autorität in sich, sondern listet einfach sämtliche (oder viele) Stellen mit dem entsprechenden Wort auf und gibt jeweils die passendste Bedeutung an, die im Kontext einer Stelle gemeint ist. Das ist ein sogenanntes induktives Vorgehen. Wenn man nicht an jeder Stelle richtig liegt, ergibt sich trotzdem mit relativ großer Sicherheit das richtige Bedeutungsspektrum.

 

Das Wort im Alten Testament

Also machen wir eine kleine Recherche. Bei dem in Ps 22,17 vorliegenden Wort fällt eins sofort auf: Es wird im Alten Testament nur an 14 weiteren Stellen verwendet, in denen es immer um etwas wie „graben“ geht. Allerdings ist dabei an drei Stellen vom Graben eines Brunnens die Rede (1Mo 26,25; 2Mo 21,33; 4Mo 21,18), während die übrigen Stellen fast ausnahmelos ein gegrabenes Loch oder eine Grube meinen. Wenn man also aus dem Kontext versucht, die Bedeutung zu ermitteln, dann muss man bei den Stellen vom Brunnenbau fragen: Was ist hier gemeint? Dazu gibt es Anhaltspunkte.

Einer der Brunnen, die 1. Mose 26 erwähnt werden, ist der Brunnen von Beerscheba (1Mo 26,33). Er ist einer der ältesten und mit über 20 Metern Tiefe auch einer der tiefsten Brunnen in Israel. Eins ist deutlich: Um einen solchen Brunnen zu graben, kann man kein einfaches Loch schaufeln, sondern muss einen engen Schacht in die Erde treiben. Eine Bedeutung wie „durchbohren“, „durchstechen“, „hineinhauen“ oder „hineintreiben“ sind also überhaupt nicht abwegig: Alle sind plausibel, wenn ein Hebräer genau diese Worte mit dem Hineintreiben eines Brunnenschachtes in die Erde verband. Sie passen aber auch in plastischer Weise für das Hineintreiben der Nägel in die Hände und Füße Jesu.

 

Ein sehr tiefer Brunnen in Lachisch, Israel

 

 

Das Argument der Septuaginta

Auch das von der Septuaginta an der Stelle von Psalm 22,17 verwendete Wort ist interessant, weil es sowohl „graben“ als auch „durchstoßen“ meinen kann. Es wird auch in Ri 16,21 in Bezug auf körperliche, rohe Gewalt im Sinne von „durchbohren“ verwendet, denn dort heißt es: „Und sie stachen ihm die Augen aus“.[8] Hier ist ganz eindeutig kein „graben“ gemeint, sondern eine körperliche Verletzung. Es wird außerdem in 1Mo 26,25 beim Brunnenbau verwendet, wo es treffend die Doppeldeutigkeit des hebräischen Wortes (graben/durchbohren) wiedergibt.

Bei den anderen Brunnenbau-Stellen versteht die Septuaginta das in Ps 22,17 verwendete hebräische Wort „graben/durchstoßen“ als „hauen“ oder „aushauen“ aus dem Fels (2Mo 21,33; 4Mo 21,18). Auch das deutet darauf hin, dass das hebräische Wort keinesfalls auf den Sinn von „graben“ mit einer Schaufel beschränkt war.

 

Fazit

Auch wenn es keine völlige Sicherheit gibt, scheint in Psalm 22,17 die beste Übersetzung also etwas in dieser Art zu sein:

„Denn Hunde haben mich umgeben, eine Rotte von Übeltätern hat mich umzingelt. Durchstochen (o. durchbohrt, durchgraben) haben sie meine Hände und meine Füße.“

David hat dabei vielleicht an eine nicht näher spezifizierte körperliche Drangsalierung gedacht. Durch die auffällige Wortwahl werden seine Worte aber zu einem deutlichen Hinweis auf das, was Jesus am Kreuz durchlebt hat.

 

  1. Zitiert nach Karrer, M.; Kraus, W. (Hrsg.): Septuaginta Deutsch: Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung: Text. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2009, 771.
  2. Ulrich, Eugene: The Biblical Qumran Scrolls (Supplements to Vetus Testamentum 134), Leiden: Brill 2010.
  3. Auch Ulrich nimmt ein Waw an (ebd., 634).
  4. Siehe dazu Hegg, Tim: Psalm 22:16 – „like a lion“ or „they pierced“? TorahResource 2017. https://torahresource.com/psalm-2216-like-lion-pierced/
  5. Siehe dazu Weber, Beat: Werkbuch Psalmen I: Die Psalmen 1 bis 72. Stuttgart: Kohlhammer, 2001, 123. Im Gegensatz zu Weber deute ich das Kernstück aber gerade nicht als Tier (den Löwen), denn einerseits würde damit die Symmetrie gebrochen (das große Stück in V. 18-20 würde ohne Tiervergleich etwas deplatziert wirken), zudem werden die unterschiedlichen Sprachbilder in V. 17-20, die nur auf einen Menschen bezogen werden können, von den Tiermetaphern abgehoben und dadurch das Schicksal eines Menschen in den Mittelpunkt des Psalms gestellt.
  6. Siehe für eine neuere Diskussion zur Stelle etwa: Saleska, Timothy E.: Psalms 1–50 (Concordia Commentary), Saint Louis: Concordia Publishing House, 2020, 393.
  7. Besonders interessant ist dann Ps 22,19: „Sie teilen meine Kleider unter sich und über mein Gewand werfen sie das Los.“ Vielleicht ist hier die Metapher wilder Tiere schon verlassen, allerdings wäre auch denkbar, dass hier ein Oxymoron (ein unmöglicher Gegensatz) formuliert wird: Die hier genannten Feinde sind eigentlich Menschen, aber verhalten sich absolut animalisch. So wie man von keinem Tier menschliches Verhalten oder von einem Menschen tierisches Verhalten erwartet, fällt in den Feinden von Ps 22 beides zusammen.
  8. Vgl. Karrer, M.; Kraus, W. (Hrsg.): Septuaginta Deutsch: Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2011, II, 1555.
Benjamin Lange
Benjamin Lange
Dr. Dr. Benjamin Lange hat Musik, Mathematik und Theologie studiert und in Mathematik und Theologie promoviert. Er arbeitet als Bibellehrer in Gemeinden und verschiedenen Bibelschulen. Außerdem ist er als Buchautor und in der Elberfelder Bibelkommission aktiv.

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