Hab Mut! – Steh auf! – Er ruft dich!
Über diese wunderbaren Worte bin ich gestern beim Lesen der Bibel in Mk 10,46-52 gestolpert. Warum sind sie so faszinierend?
Niemand braucht dich. Niemand will dich. Und bei Jesus hast du schon gar keinen Platz – du bist einfach viel zu unbedeutend. So oder so ähnlich haben die Menschen gegenüber einem Blinden reagiert, als sich ihre große Hoffnung, der neue Star in Israel nähert. Sein Name? Jesus – aber wer achtet schon auf Namen? Viel wichtiger ist, was er ist. Ein Fußballer? Ein Sänger? Ein Präsident?
Der Sohn Davids
Nein, noch besser: Er ist der Sohn Davids. Klingelt nichts? Für die Menschen damals war das anders. Der „Sohn Davids“ war die Verkörperung aller ihrer Hoffnungen und kühnsten Träume. Sie wussten nur eins: Wenn der Sohn Davids kommt, dann wird alles gut. Und zwar sprichwörtlich ALLES. Nicht nur in Israel, nicht nur mit den Blinden, sondern mit der ganzen Welt. Wen wundert’s, dass unser Blinder jetzt die einmalige Chance seines Lebens sieht. Also schreit er Frust und Hoffnung zugleich heraus: „Sohn Davids, Jesus, erbarme dich über mich!“ Doch die Leute um ihn herum machen ihn fertig, entmutigen, dämpfen, blockieren ihn. Nicht nur einer, sondern viele machen das so. Darin sind sie sich einig: Es wollen schon viel zu viele was vom Kuchen, und ein Schwacher und Kranker hat da keinen Platz. Niemand hört auf ihn – außer einem. Dem Sohn Davids. Und das Unglaubliche geschieht: Der Sohn Davids will ihn sehen.
Die schönsten Worte der Welt
Die Leute, die eben noch auf den Blinden herabgeschaut, ihn gehindert, gedisst und schikaniert haben, sind nun diejenigen, die ihm die schönsten Worte zurufen, die er in seinem Leben gehört hat. Markus hebt sie hervor, indem er in seinem Bericht nun von der Vergangenheitsform in die Gegenwartsform wechselt. Er sagt „Sie rufen (Präsens) ihn“. Es ist also, als ob die Zeit stehen bleibt. Es sind für ihn die schönsten Worte der Welt: THARSI EGIRE FONISE (Mk 10,49). Die griechischen Worte aus dem Markusevangelium klangen damals so:
Warum diese Worte so schön sind? Schon klanglich sind sie schöne Worte, ein Reim, fast ein Gedicht. THARSI – Hab Mut! EGIRE – Steh auf! FONISE – Er ruft dich! Die beiden letzten Worte EGIRE und FONISE reimen sich, zusammen bilden die drei Worte einen tollen Rhythmus, einen Ohrenschmaus. Allerdings werden hier nicht die Leute plötzlich zu Poeten. Der Poet ist Markus, der Evangelist. Die Leute damals sprachen Aramäisch und da ergibt sich kein Reim. Es waren einfache Worte und die Leute waren sich der tiefen Bedeutung vermutlich gar nicht bewusst. Doch der Evangelist Markus macht die Worte zum Gedicht. Er will auf die Schönheit und Faszination dieser Worte für den Blinden hinweisen. Sie dringen von den Ohren bis tief in die Seele des Blinden vor. Der entmutigte, gedisste Blinde hört nun: Hab Mut! Der eben noch Niedergedrückte, Untergebutterte, Gebeugte hört nun: Steh auf! Und der eben noch Weggedrängte, Zurückgewiesene und Überhörte hört nun: Er ruft dich! Und zwar nicht irgendwer – sondern der Sohn Davids in Person.
Und dann?
Was dann passiert, kann man in wenigen Sätzen zusammenfassen, die im Griechischen aber drastische Formulierungen enthalten: Er schmeißt seinen Mantel weg, springt in die Höhe und kommt zu Jesus. Dort wendet sich Jesus ihm, und nur ihm persönlich zu. Er bekommt nicht nur sein Augenlicht, sondern erfährt rettenden Glauben. So fasziniert ist er vom Sohn Davids, dass er ihm prompt ungehorsam ist. Eben noch hatte Jesus gesagt „Geh hin, dein Glaube hat dich gerettet“. Und nun schafft er es nicht, gehorsam zu sein. Nein, er kann einfach nicht weggehen. Er bleibt bei Jesus. Er folgt ihm nach. In Wirklichkeit ist das kein Ungehorsam, sondern der größte Glaubensbeweis überhaupt. Er hat etwas gefunden, das er nie wieder loslassen will. Oder besser: Jemanden, den er nie wieder loslassen will.
Motivation pur
Und das alles beginnt mit diesen schönen Worten der Hoffnung. Sie gelten nicht nur dem Blinden, sondern auch dir und mir. Sie sehen aus, wie das Paradestück eines Motivations-Gurus: Habe Mut! Steh auf! Doch sie sind besser als das, weil sie nicht nur dazu helfen, nicht am Boden zerstört liegen zu bleiben, sondern ein Ziel haben. ER ruft dich. Es geht nicht um meditative Selbstmanipulation, sondern um eine von Jesus begonnene Kommunikation. Jesus will DICH persönlich sehen und Zeit mit dir verbringen. Egal, ob andere dich für würdig oder passend halten. Er ruft dich.
Losung und Lösung
Vielleicht verstehst du jetzt, warum mich diese drei Worte fasziniert haben. Sie sind wie eine Losung, die man sich heute immer wieder sagen kann: Habe Mut! Steh auf! Er ruft dich! Und es sind Worte, die auch heute noch eine Lösung sein können, weil sie auf den hinweisen, der helfen kann: Den Sohn Davids. Es sind Worte, die alt und neu sind. Wir besitzen sie noch heute in sehr alten Manuskripten dieses Evangeliums. Die Worte sind alt und zuverlässig verbürgt, und trotzdem so aktuell. In dem ältesten Manuskript, das wir von diesem Stück des Markusevangeliums besitzen, sehen sie ungefähr so aus, wie auf dem Bild oben. Man hat damals nur in Großbuchstaben geschrieben und eigentlich auch keine Abstände zwischen den Worten gemacht. Klingt kompliziert? War auch so. Lesen erforderte mehr Übung als heute. Das letzte Wort FONISE sind zum Beispiel eigentlich zwei Worte, aber Wortabstände gab es ja damals nicht. Aber egal. Diese alten Worte, zuverlässig verbürgt, sind gleichzeitig neu. Sie sind auch deine Worte. In diesem Sinne:
THARSI – EGIRE – FONISE
(Mk 10,49)