Jeder hört gerne eine Geschichte. Das ist nicht nur bei Kindern so, sondern auch bei Erwachsenen. Geschichten sind lebhaft, interessant, laufen auf einen Höhepunkt zu und bauen dabei Spannung auf. Gute Geschichten sind außerdem noch lehrreich. Alles das gilt auch für die Gleichnisse Jesu – jedenfalls für die längeren. Doch weshalb verwendet Jesus so viele Gleichnisse? Was macht sie besonders?
Gleichnisse bleiben im Gedächtnis
Gleichnisse sind fest in der Lebenswelt der Menschen verwurzelt. Sie enthalten Hintergründe, Verhaltensweisen oder Gegenstände, die den Menschen bestens vertraut sind. Im Unterschied zu einem Vortrag mit Fachbegriffen, in den man sich erst mühsam hineindenken muss, hat man zu einem Gleichnis einen schnellen Zugang. Doch Gleichnisse enthalten nicht nur Gewöhnliches und Bekanntes. Fast jedes Gleichnis legt neben dem Gewohnten den Schwerpunkt auf überraschende, erstaunliche oder ungewöhnliche Verhaltensweisen, die zum Nachdenken anregen und gut im Gedächtnis bleiben. Wer stellt sich nicht bildhaft vor, wie ein Kamel durch eine winzige Öffnung gequetscht und geschoben werden soll (Mt 19,24)? Oder wer ist nicht überrascht, dass gerade der Samariter dem Verletzten hilft (Lk 10,33–34)? Oder wer stellt sich nicht vor, wie ein Balken wohl in einem Auge aussehen würde (Mt 7,3–5)? Gleichnisse sind daher ideale pädagogische Mittel, um die Lehre Jesu zu vermitteln. Sie illustrieren die Lehre Jesu und bleiben im Gedächtnis.
Gleichnisse sind nachvollzogene Lehre
Obwohl Gleichnisse immer eine bestimmte Lehre enthalten oder illustrieren, sind sie doch mehr als eine reine Lehre. Es wäre ein Fehler, aus einem Gleichnis nur die Hauptaussage zu entnehmen und das Gleichnis dann zu vergessen. Wenn das ginge, hätte Jesus auch die Botschaft der Gleichnisse in wenigen Sätzen formulieren können und nicht in ausführlichen Erzählungen verpacken müssen. Doch Gleichnisse sind schon deshalb besonders, weil sie beim Zuhören einen Denkprozess in Gang setzen, ohne dass sich der Zuhörer dessen bewusst ist. Sie provozieren Fragen, lösen Emotionen aus, lassen mit den Charakteren der Gleichnisse mitfühlen und laufen schließlich auf die Frage hin, wie das Gleichnis wohl angewandt und übertragen werden muss. Alles das ist bei einer trockenen Vermittlung von Lehrsätzen nicht (oder deutlich weniger) der Fall. Was meint der Samen, den ein böser Mensch in den Acker sät (Mt 13,25)? Und wieso tut der böse Mensch das? Man muss über die Gleichnisse nachdenken, um sie zu verstehen. Und jeder Lehrer weiß: Erst das, worüber man selbst aktiv nachgedacht hat, macht man sich zu eigen. Man versteht es, man kann es sich merken und – was am wichtigsten ist – es bringt ein verändertes Verhalten hervor.
Gleichnisse zielen auf geändertes Verhalten ab
Gleichnisse sollen also nicht in erster Linie die Zuhörer unterhalten, sondern zum Nachdenken herausfordern – oder besser: zum Umdenken. Denn die Gleichnisse Jesu wollen das Denken und Handeln verändern. Man soll seine eigene Denk- und Verhaltensweise hinterfragen. Bin ich vielleicht auch wie der Mann, der auf Sand baut (Mt 7,26)? Hätte ich wie der Levit oder wie der barmherzige Samariter gehandelt (Lk 10,32–33)? Mache ich vielleicht auch den Fehler, den die unvorbereiteten Jungfrauen machen (Mt 25,3)? Durch die Gleichnisse konfrontiert Jesus häufig mit einer richtigen und einer falschen Verhaltensweise und fordert dazu auf, das eigene Leben und Handeln zu überdenken.
Gleichnisse polarisieren
Jesus verwendet an einem ganz bestimmten Punkt seines Dienstes vermehrt Gleichnisse. Das geschieht, nachdem er von der jüdischen Führungsriege in einem fast schon offiziellen Akt abgelehnt wurde (Mt 12,24). Anschließend spricht Jesus viel in Gleichnissen (Mt 13,34), doch nicht alle verstehen die Gleichnisse. Sogar die Jünger haben damit Probleme. Sie fragen Jesus daher: „Warum redest du in Gleichnissen zu ihnen?“ (Mt 13,10). Die Antwort ist aufschlussreich: Jesus redet in Gleichnissen, damit diejenigen, die ihm folgen wollen, dadurch noch mehr lernen können, aber diejenigen, die ihn ablehnen, den Inhalt nicht verstehen (Mt 13,11–15). Mit anderen Worten: Gleichnisse polarisieren. Sie bringen nur dem etwas, der sich auf Jesus einlassen möchte – dem aber bringen sie umso mehr (Mt 13,12). Die „Himmelreichsgleichnisse“ Jesu haben damit also noch eine besondere Funktion. Sie markieren einen heilsgeschichtlichen Wendepunkt, in dem sich Jesus von den Massen wegwendet und auf solche konzentriert, die ihm nachfolgen wollen. Gleichnisse sind daher vor allem für Nachfolger wichtig. Das gilt auch heute noch.
Zuerst erschienen in: Gemeinde aktuell 02/2020, 3-4