Was geschah mit der Sünde am Kreuz?

 

Durch den Sündenfall kommt die Sünde in die Welt. Durch das Kreuz wird sie wieder aus der Welt geräumt. Doch wieso gerade durch das Kreuz? Wie hängen Sünde und Kreuz genau zusammen? Und wie wird Sünde durch das Kreuz beseitigt?

Zentral am Kreuz ist zunächst dies: Es ist ein Hinrichtungsinstrument und führt durch große Qualen zum Tod des Gekreuzigten. Die Verbindung zwischen Sünde und Kreuz führt daher entscheidend über das Leiden und Sterben Jesu Christi. Im Neuen Testament werden sehr unterschiedliche Aspekte genannt, die diese Verbindung näher ausführen. So werden im Johannesevangelium schon zu Beginn die programmatischen Worte des Täufers vorangestellt: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“ (Joh 1,29). Durch die Bezeichnung Jesu als „Lamm Gottes“ wird der Tod des Herrn vor dem Hintergrund alttestamentlicher Opfer ausgedrückt. Das Resultat ist die Hinwegnahme der Sünde. Später im Johannesevangelium wird das Sterben Christi durch den Gedanken der Stellvertretung ausgedrückt (Joh 11,51-52). Ähnlich heißt es im Markusevangelium, dass der Sohn des Menschen gekommen ist, um „sein Leben zu geben als Lösegeld für Viele“ zu geben (Mk 10,45). In Anspielung an Jes 53 (vor allem V. 4.5.12) betont Petrus, dass Christus die Sünden auf dem Kreuz getragen hat (1.Petr 2,24). Paulus betont, dass Christus durch sein Blut und seinen Tod zum Sühneort geworden ist (Röm 3,25), während der Hebräerbrief direkt sagt, dass Christus durch sein Opfer die Sünden weggenommen hat (Hebr 9,26). Auch die Leiden werden im Hebräerbrief mit der Sühnung für die Sünden verbunden (Hebr 2,17-18). Alleine diese wenigen Passagen im Neuen Testament sind voll von Begriffen und Denkmodellen wie Tod, Sterben, Leiden, Sühne und Stellvertretung. Diese finden ihre Verbindung im Kreuz. Um die Art und Weise, in der sie am Kreuz zusammenfallen besser zu verstehen, lohnt es sich, die Dinge der Reihe nach zu betrachten.

Sünde und Tod

Dass Sünde den Tod des Sünders nach sich zieht, ist nach der Beschreibung des Sündenfalls in 1.Mose 2-3 offensichtlich (besonders 1.Mose 2,17; 3,4). Doch weshalb hat die Sünde so gravierende Konsequenzen? Als Gott die Menschen schuf, brachte er ihnen seine göttliche Liebe entgegen. Diese kann durch nichts aufgewogen, bezahlt oder abgemessen werden, sie ist für die Menschen eine unendliche Liebe. Was geschah also, als der Mensch eine unendliche Liebe zurückwies? Eine Zurückweisung einer unendlich großen Liebe ist ein unendlich großes Vergehen und zieht folglich eine unendlich große Strafe nach sich. Der Mensch stand aufgrund seiner Sünde zwangsläufig unter einem unendlich schweren Strafgericht. Doch wie können endliche, begrenzte Menschen eine unendliche und unbegrenzte Strafe auf sich nehmen? Diese Frage bleibt im Alten Testament zunächst offen. Durch den Begriff der Sühne wird jedoch klar, dass Gott als Konsequenz auf die Sünde nichts weniger als das Leben des Sünders fordert.

Sünde und Sühne

Dass Sünde nur durch den Tod wieder überwunden, vergeben und aus der Welt geschafft werden kann, wird im Zusammenhang mit dem Sündenfall schon angedeutet (1.Mose 3,15.21), aber spätestens im Zusammenhang mit den alttestamentlichen Opfern deutlich. Die Verbindung von Tod des Opfertiers und Sühnung der Sünde erscheint regelmäßig bei der Beschreibung des Sünd- und Schuldopfers (3.Mose 4-5). Laut Duden geht das deutsche Wort „Sühne“ wohl auf „Beschwichtigung, Beruhigung“ zurück. Aber der biblische Sprachgebrauch setzt andere Akzente. Durch die Handauflegung wird sowohl die Sünde als auch die ganze vor Gott verwirkte Existenz des Sünders auf das Opfertier übertragen. Der anschließende Tod des Opfertiers zeigt, dass es nicht um eine „Ausgleichszahlung“ geht, durch die eine einzelne Übertretung vor Gott wieder gut gemacht wird, sondern nichts weniger als der Tod des Sünders (symbolisiert durch den Tod des Opfertiers) die Konsequenz der Sünde ist. Sünde kann nicht einfach wieder gut gemacht werden, sondern zieht in der einzig logischen Konsequenz den Tod des Sünders nach sich. Nur durch die von Gott gegebene Möglichkeit der Stellvertretung (vgl. 3. Mose 17,11) kann der Sünder weiterleben, während das Opfertier stirbt.

Später im Alten Testament wird das Leiden des Gottesknechtes in Anknüpfung an diese Opfer als „Schuldopfer“ bezeichnet (Jes 53,10). Neu dabei ist, dass nicht nur der Tod, sondern auch das Leiden selbst der Tilgung der Sünde dient. Es wird gesagt, dass er den „Vielen“ – ein Hinweis sowohl auf Juden als auch auf Heiden – zur Gerechtigkeit verhelfen wird, indem er sich ihre Sünden auflädt (Jes 53,11). Offenbar ist zur Wegnahme der Sünde mehr als der physische Tod des Sünders notwendig. Die Sünde wird durch das Leiden und Sterben Christi getragen, weggenommen und gesühnt.

Sünde und Kreuz

Doch wie genau sieht diese Sühnung durch den Tod am Kreuz aus? Hier lohnt sich ein Blick auf die zentralen Ereignisse. Die Leiden am Kreuz sieht der Herr schon vorher und bezeichnet sie als „Kelch“ (Mt 20,22f; 26,39-42). Damit bezieht er sich wohl auf den „Kelch des Zornes“, von dem an unterschiedlichen Stellen die Rede ist (Jes 51,17-22; Jer 25,15-29; Hes 23,31-33 u.a.) Die alttestamentlichen Stellen machen durch dramatische Beschreibungen die Intensität des durch den Kelch symbolisierten Gerichtes deutlich und zeigen die Schwere der Strafe, die Sünde zur Folge hat. Es geht um mehr als den leiblichen Tod. Es geht um die Ausschüttung eines unermesslichen großen Zornes als Gericht über die Sünde. Wie äußert sich dieser Zorn nun konkret?

Die Evangelisten berichten von einer dreistündigen Finsternis, die über das ganze Land kommt (Mt 27,45; Mk 15,33; Lk 23,44). In der Zeit der Finsternis wird Jesus von Gott verlassen. Hier sind wir am zentralen Punkt im Handeln Gottes mit der Sünde am Kreuz angekommen. Indem Gott sein Angesicht vor dem verbirgt, der die Sünde der Welt auf sich genommen hat, richtet er die Sünde. Gott schüttet seinen Zorn, den die Menschen aufgrund ihrer Sünde verdient haben, über seinen Sohn aus. Damit wird deutlich, dass die Sünden nicht durch die physischen Leiden getilgt werden, die mit einer Kreuzigung einhergehen. Sonst hätten auch die beiden mitgekreuzigten Verbrecher auf dieselbe Weise für ihre eigenen Sünden bezahlen können.

Kreuz und Strafe

Hier kommen wir auf die oben bereits gestellte Frage zurück: Wie kann ein endlicher Mensch eine unendlich schwere Strafe tragen? Bei begrenzten Menschen kann dies nur geschehen, indem der Mensch für eine unendliche lange Zeit unter Gottes Zorn steht. Darum wird die Hölle als „ewige“ Strafe bezeichnet (Mt 25,41; 2.Thess 1,9; Jud 1,7). Um die Sünde aus der Welt zu schaffen, musste der Sohn Gottes damit eine unendliche Strafe auf sich nehmen. Doch wie ist das möglich, wenn die Zeit am Kreuz auf wenige Stunden begrenzt ist? Nur durch eine unendliche Intensität der Strafe. Während Menschen nur begrenzt tragfähig sind, ist nur eine Person der Gottheit selbst in der Lage, einen unendlich intensiven Zorn zu tragen. Und deshalb kann auch kein Mensch die Strafe für seine eigene Sünde oder die eines anderen Menschen in einer endlichen Zeit oder durch ein begrenztes Leiden tragen. Darum kann auch der Sohn Gottes die Sünde der Welt nicht durch dieselben Leiden tragen, die hingerichtete und gekreuzigte Verbrecher schon zu tausenden erduldet haben. Um die Sünde der Welt zu tragen, muss Christus neben den physischen Leiden des Kreuzes den unendlichen Zorn Gottes ertragen.

Kreuz und Gottverlassenheit

Die ganze Intensität dieser Leiden kommt in dem Ausruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mt 27,46; Mk 15,34) zum Ausdruck. Es scheint, als ob durch das Verlassensein von Gott die Schmerzen auf unendliche Weise intensiver für ihn werden. Doch was genau in diesen drei Stunden am Kreuz vor sich geht, bleibt der menschlichen Vorstellungskraft letztendlich verborgen. Alle Versuche, sich vorzustellen, wie genau Gott die Sünde richtet und seinen unendlichen Zorn über den Sohn ausgießt, sind letztlich eben nicht mehr als das – Versuche, das Unsägliche zu verstehen. Es ist damit nur folgerichtig, dass sich vor die entscheidenden Augenblicke die Finsternis wie eine Wand vor die Augen der Menschen schiebt. Es ist, als ob Gott selbst damit einen Vorhang zuzieht, um das Unsäglich, das Unvorstellbare vor den Augen der Menschen zu verbergen. Was hier geschieht, wird kein Mensch je bis ins Letzte verstehen. Als der Sohn in die Finsternis geht, kann ihm kein Mensch dorthin folgen. Kein Mensch kann sehen, was ihn dort erwartet, und kein Mensch kann ihn dorthin begleiten. In die Finsternis geht Gott alleine mit dem Sohn, und richtet ihn auf eine Weise, die menschlichen Augen für immer verborgen bleibt. Erst als Jesus am Kreuz stirbt, kommt das Licht zurück und mit ihm die Gewissheit, dass Tod und Sünde für immer besiegt sind. Die Sünde ist damit tatsächlich getilgt und weggetan.

Zum Schluss

Der Blick auf das Kreuz zeigt, dass Sünde nicht leichtfertig weggenommen werden kann. Sie hat eine Strafe zur Folge, die den physischen Tod des Sünders einschließt, aber weit darüber hinausgeht. Nur durch das stellvertretende Opfer des Sohnes Gottes kann sie endgültig gesühnt werden. Und nur durch sein stellvertretendes Leiden in der Finsternis und Gottverlassenheit wurde sie gesühnt. Was für eine Strafe hat der Herr für uns getragen! Zuvor im Garten ahnte er, wie bitter dieser Kelch sein würde, den er in der Finsternis tragen würde. Und dennoch ging er ohne Umwege darauf zu, hin zu den finstersten und dunkelsten Stunden, die jemals auf dieser Erde vergingen. Nur dadurch konnte Sünde tatsächlich gesühnt werden. Da bleibt nur Staunen und Dankbarkeit.

Zum Weiterdenken

Das Werk des Herrn am Kreuz hat gewaltige Folgen. Wie viele unterschiedliche Aspekte werden in den oben genannten Bibelstellen (Joh 1,29; Joh 11,51-52; 1.Petr 2,24; Röm 3,25; Hebr 9,26; Hebr 2,17-18) angesprochen? Durch welche Vergleiche und alttestamentlichen Bilder werden die Auswirkungen des Todes Jesu am Kreuz ausgedrückt?

Zuerst erschienen in: Perspektive 04/2015, 23-25

 

Benjamin Lange
Benjamin Lange
Dr. Dr. Benjamin Lange hat Musik, Mathematik und Theologie studiert und in Mathematik und Theologie promoviert. Er arbeitet als Bibellehrer in Gemeinden und verschiedenen Bibelschulen. Außerdem ist er als Buchautor und in der Elberfelder Bibelkommission aktiv.

Share This

Copy Link to Clipboard

Copy