Was dachten die Leute damals über Jesus?

 

Was dachten die Menschen zu Jesu Lebzeiten über ihn? Dachten sie grundsätzlich anders, als Menschen heute denken? Wie sehen wir Jesus?

Messianische Erwartungen

Zur Zeit Jesu herrscht unter breiten Bevölkerungsschichten eine gespannte Erwartung des Messias. Viele Menschen erwarten einen Befreier, der große Wunder vollbringt und darin sogar die großen alttestamentlichen Gestalten wie Mose und Elia übertrifft. Manche erwarten einen Lehrer mit großer Weisheit. Wiederum andere erwarten vor allem einen politischen Befreier, der das Volk als von Gott befähigter König in die Unabhängigkeit führt. Dementsprechend messen viele Menschen Jesus an ihren eigenen Erwartungen. Die Meinung der breiten Volksmenge über Jesus war deshalb durchaus nicht einheitlich. Während manche ihn für einen Verführer halten weil er nicht ihren Erwartungen entspricht, kommen andere zu einem positiven Urteil (Johannes 7,12). Den meisten ist jedoch gemeinsam, dass sie ihn an ihren Erwartungen messen. Sie prüfen, ob Jesus in ihre messianischen Schablonen passt und bilden sich damit ihre Meinung.

Jesus als Wundertäter

Das sind zum einen die Menschen, die von Jesus Wunder erwarten. Sie reagieren begeistert, als Jesus große Wunder tut. Sie sehen in Jesus einen Propheten und damit die Erfüllung ihrer Hoffnungen nach einem neuen Handeln Gottes – wie in alttestamentlicher Zeit. Doch Johannes zeigt, dass ein bloßer Wunderglaube am Ziel vorbeigeht. Er schreibt bewusst nicht von „Wundern“, sondern von „Zeichen“, weil sie Jesus als Sohn Gottes erweisen.[1] Während ein Wunder bestaunt werden kann, muss ein Zeichen verstanden werden. Die Bedeutung der Zeichen bleibt jedoch vielen Menschen verborgen. Wie sehr ihre Vorstellungen im Irdischen verhaftet sind, zeigt die nüchterne Einschätzung Jesu nach der Speisung der Fünftausend: „Ihr sucht mich, nicht weil ihr Zeichen gesehen (und verstanden) habt, sondern weil ihr von Broten gegessen habt und satt geworden seid“ (Johannes 6,26). Die Menge will seine Wunder eher für das irdische Wohlergehen nutzen, als in ihnen ein Zeichen für das wahrhaftige Brot des Lebens zu sehen. Wie leicht kann es auch heute passieren, dass auf der Jagd nach Sensationen die eigentliche Botschaft Jesu untergeht. Oder dass man Jesus vor allem deshalb nachfolgen will, weil er das Leben einfacher und angenehmer zu machen scheint.

Jesus als politische Hoffnung

Andere sehen in Jesus ihre politischen Hoffnungen verwirklicht. Im Überschwang der Ereignisse wollen sie ihn nach der Brotvermehrung zum König machen. Später bejubelt ihn die Menge als „König Israels“ (Johannes 12,13.19). Doch in dem Wunsch, ihn als König einzusetzen, spiegelt sich mehr die Hoffnung nach staatlicher Unabhängigkeit und einem Ende der römischen Fremdherrschaft, als der Wunsch, sich seiner Herrschaft und seinem Willen zu beugen. Das gilt auch heute, wenn Jesus mit seiner Botschaft dazu verwendet wird, die eigene Position zu stärken. Die Gefahr dazu besteht nicht nur im Kontext der Politik, sondern auch im Bereich kirchlicher Macht – und nicht zuletzt auch in der eigenen Gemeinde.

Jesus als Gefahr für die politische Ordnung

Die Hoffnungen der einen auf einen politischen Umsturz sind für andere wiederum ein Dorn im Auge. Der Sanhedrin sieht Jesus als Störenfried und Gefahr für die eigene Machtposition. Die religiösen Führer des Volkes fürchten, dass Jesus die politische Lage aus dem Gleichgewicht bringen könnte und ihnen damit die eigene Macht entzogen würde (Johannes 11,48). Sie waren eher bereit, Jesus zu beseitigen, als die eigene Stellung aufzugeben (Johannes 11,53). War ihre Befürchtung berechtigt? Jesus sagt vor Pilatus, dass sein Reich nicht von dieser Welt ist und er nicht gekommen ist, um die politische Ordnung umzustürzen. Er ist vielmehr gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis zu geben (Johannes 18,36). Doch wer Jesus nur durch die Brille der eigenen Machtposition sieht, verliert das eigentliche Ziel seines Kommens aus den Augen.

Jesus als Held der Öffentlichkeit

Die unvergleichliche Popularität Jesu könnte zu der Annahme verleiten, dass Jesus es geradezu darauf angelegt hätte, in der Öffentlichkeit bekannt zu werden. Vielleicht dachten auch die leiblichen Brüder Jesu so. Sie geben ihm Anweisungen, wie er sich der Öffentlichkeit bei dem bevorstehenden Laufhüttenfest am besten verkaufen und präsentieren kann (Johannes 7,7). Möglicherweise wollten sie dadurch auch selbst bekannter werden. Doch Jesus weist ihr Ansinnen scharf zurück. Dabei wird etwas Entscheidendes deutlich: Es geht Jesus nicht darum, in der öffentlichen Meinung möglichst gut dazustehen. Ihm geht es vor allem darum, sich nach dem Willen des Vaters und der von ihm festgesetzten Zeit zu richten (Johannes 7,7). Das schließt auch gut gemeinte Ratschläge von Menschen aus, wie Jesus sich am besten zu verhalten hätte.

Jesus aus rein irdischer Perspektive beurteilt

Als Jesus in der Öffentlichkeit predigt, setzen sich Menschen, die die unterschiedlichsten messianischen Erwartungen haben, mit ihm auseinander. Eine populäre messianische Erwartung war, dass der Messias zwar ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, aber letztlich unbekannte Ursprünge hat. Somit, so denken viele, wird vom Messias „niemand wissen, woher er ist“ (Johannes 7,27).

Jesus zeigt ihnen, dass sie damit in gewisser Weise sogar Recht haben: Seine wirkliche Herkunft vom Vater kennen sie nicht (Johannes 7,29-29). Stattdessen meinen die Menschen aber, die Herkunft Jesu bereits voll zu verstehen. Doch wessen Elternhaus bekannt sei, könne nicht der Messias sein. Man meint, man wisse, woher Jesus ist, weil er als Mensch in einem ganz normalen Dorf aufwuchs. Man meint, Jesus nach seiner menschlichen Seite allein beurteilen zu können.

Das ist heute nicht anders: Viele Menschen sehen in Jesus einen bloßen Menschen und verkennen dabei seine himmlische Herkunft. In Wirklichkeit sehnen sie sich vielleicht nach etwas Übernatürlichem, aber sie denken dabei nicht an Jesus.

Beurteilung Jesu durch Unwissenheit und Halbwissen

Anderen ist besonders wichtig, dass der Messias in Bethlehem geboren wird (Johannes 7,41-42). So meinen die Schriftgelehrten und Pharisäer, Jesus mit dem Hinweis aburteilen zu können, dass aus Galiläa kein bedeutender Prophet aufstehen könne (Johannes 7,52). Doch dabei täuschen sie sich in doppelter Weise: Zum einen gibt es mit Jona und Nahum bekannte Propheten, die aus Galiläa kamen (2. Könige 14,25; Nahum 1,1). Zum anderen irren sie sich über den menschlichen Ursprung Jesu, der nicht in Galiläa sondern in Bethlehem geboren wurde. Wie viel weniger erfassen sie seinen göttlichen Ursprung? Gerade dadurch, dass sie Jesus mit ihren Vorurteilen begegnen, verkennen sie ihn. Damit zeigt Johannes seinen Lesern: Wer Jesus mit einfachen Vorurteilen ablehnt, macht es sich zu einfach. Deshalb mahnt Jesus: „Richtet nicht nach dem äußeren Anschein, sondern richtet das gerechte Gericht“ (Johannes 7,24).

Auch heute wird Jesus von vielen Menschen deshalb verkannt, weil sie ihn aus Halbwissen oder Unwissenheit heraus beurteilen. Oftmals irren sich Menschen sogar in Bezug auf die menschliche Seite Jesu. Was hat er wirklich gesagt? Was hat er wirklich getan? Was hat er wirklich gewollt? Darüber gibt es heute unzählbar viele Meinungen.

Jesus erfüllt die Sehnsüchte der Menschen

Die unterschiedlichen Reaktionen auf Jesus zeigen, dass er offensichtlich anders ist, als sich die Menschen damals den Messias vorgestellt haben. Die traurige Ironie dabei ist, dass Jesus die tiefen Erwartungen der Menschen nach einem Erlöser und Befreier gerade erfüllt! Durch seine einzigartigen Zeichen weist er sich eindrucksvoll als Messias aus. Er beansprucht tatsächlich, ein König zu sein – aber sein Reich ist nicht von hier (Johannes 18,36). Mit seiner himmlischen Herkunft ist sein Ursprung tatsächlich unbekannt – genau wie es manche erwarten. Und in Bezug auf seine menschliche Herkunft aus Bethlehem erfüllt er die alttestamentlichen Verheißungen. Daraus wird deutlich: In Wirklichkeit erfüllt Jesus die tiefen Erwartungen und Sehnsüchte der Menschen. Dennoch ist es für die Menschen so leicht, ihn zu verkennen. Warum? Vielleicht deshalb, weil Jesus nicht einfach in ein vorgefertigtes Schema passt. Wer sich in ein Schema einfügen lässt, wird beurteilt, in vorgefertigte Kategorien eingeordnet und letztlich den eigenen Urteilen untergeordnet oder für eigene Interessen benutzt.

Wie wir Jesus heute sehen

In solchen Schablonen zu Denken ist typisch menschlich. Es trifft nicht nur auf die Zeitgenossen Jesu zu, sondern ist bis heute zu finden. Doch damit kann man Jesus nicht erfassen. Der Sohn Gottes ist nicht in die Welt gekommen, um von Menschen beurteilt zu werden, sondern um sie ins Licht Gottes zu stellen. Wer sich mit ihm auseinandersetzt, muss es aufgeben, ihn nach seinen eigenen Interessen und Kategorien beurteilen zu wollen, sondern muss sich in Jesu Licht wahrnehmen. Das illustrieren die Begebenheiten im Johannesevangelium, in denen einzelnen Menschen Jesus begegnen. Die Frau am Jakobsbrunnen, Nikodemus oder der Blindgeborene erfahren ein Umdenken, bei dem sie ihre alten Maßstäbe fallen lassen und sich neue Maßstäbe von Jesus geben lassen. Wer dagegen versucht, Jesus seinen eigenen Denkkategorien zu unterwerfen, wird ihn verkennen. Die angemessene Reaktion auf Jesus ist nicht, ihn einer Beurteilung zu unterziehen. Es gibt nur eine angemessen Reaktion auf Jesus: Glaube. Wer Jesus durch Glauben begegnet, erkennt seine eigene Bedürftigkeit und dass es Jesus ist, der beurteilt – nicht die Menschen. Vielleicht ist die Bereitschaft, das eigene Bild von Jesus korrigieren zu lassen, anstatt ihn nach diesem Bild zu beurteilen, das Wichtigste in der Begegnung mit ihm. Das gilt sowohl für Fragende, die sich Jesus mit Hoffnungen und Sehnsüchten nähern, als auch für Nachfolger, die schon viel mit ihm erlebt haben. Vielleicht ist es gerade als Nachfolger Jesu wichtig, sich immer wieder darauf zu besinnen und sich bewusst zu machen, dass es nicht in erster Linie darauf ankommt, dass Jesus unsere Erwartungen erfüllt, sondern vielmehr darauf, unsere Erwartungen immer wieder neu an seiner Person auszurichten. Der Schlüssel dazu ist und bleibt der Glaube.

  1. Es ist bezeichnend, dass die einzige Erwähnung von „Wundern“ im Johannesevangelium (Joh 4,48) sich in negativer Weise auf einen bloßen Wunder-Glaube bezieht.

 

Zuerst erschienen in: Perspektive 07/2013, 52-54

 

 

Benjamin Lange
Benjamin Lange
Dr. Dr. Benjamin Lange hat Musik, Mathematik und Theologie studiert und in Mathematik und Theologie promoviert. Er arbeitet als Bibellehrer in Gemeinden und verschiedenen Bibelschulen. Außerdem ist er als Buchautor und in der Elberfelder Bibelkommission aktiv.

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