Gott rechtfertigt
Gott sucht den Menschen. In seiner Liebe geht er dem Menschen nach, und in der Rechtfertigung gelangt diese zu ihrem Ziel. Doch was heißt eigentlich „Rechtfertigung“ genau? Offensichtlich ist zunächst die enge Verwandtschaft mit dem Wort recht oder gerecht. Wenn Gott einen Menschen rechtfertigt, dann macht er ihn gerecht oder erklärt ihn für gerecht. Obwohl das den Eindruck erweckt, dass die Rechtfertigung eines Sünders nur das Endergebnis der liebenden Suche Gottes ausdrückt, kommt in der Bibel ein wesentlich breites Bedeutungsspektrum von „rechtfertigen“ zum Ausdruck.
Rechtfertigung im Alten Testament
Rechtfertigung als Rechtssache
Im Alten Testament hängt Gottes Rechtfertigung ganz eng mit seiner Gerechtigkeit zusammen. Diese ist nicht nur eine Eigenschaft Gottes (seine Gerechtigkeit, d.h. Gott ist gerecht in seinem Wesen und Handeln), sondern auch eine Tätigkeit: Gottes Handeln, durch das er Gerechtigkeit erreicht oder seine Gerechtigkeit zeigt. Diese zeigt sich darin, dass er Gericht über Sünde übt. So etwa in Psalm 50,6: „Und der Himmel verkündet seine Gerechtigkeit, dass Gott Richter ist, er selbst.“ (ähnlich Psalm 7,17). Dementsprechend kann auch der von Gottlosen bedrängte Gerechte zu Gott sagen: „Denn du hast ausgeführt mein Recht und meine Rechtssache; du hast dich auf den Thron gesetzt, ein gerechter Richter. Du hast Nationen gescholten, den Gottlosen verloren gegeben, ihren Namen ausgelöscht für immer und ewig“ (Psalm 9,5-6; ähnlich Psalm 97,2 oder Jesaja 59,17). Gottes Gerechtigkeit ist Teil seines Charakters und damit die Grundlage für das Gericht über Sünde. Aufbauend auf dieses Verständnis von Gerechtigkeit meint „rechtfertigen“ im Alten Testament häufig, jemanden aufgrund seines Verhaltens „für gerecht zu erklären“ (vgl. 5. Mose 25,1; 2.Samuel 15,4; 1. Könige 8,32; 2. Chronik 6,23; Sprüche 17,15; Jesaja 5,23). Dementsprechend erwartet der Gerechte, dass Gott ihn von den Gottlosen, die ihn bedrängen, rettet und so bestätigt, dass er im Recht ist (vgl. Jesaja 50,8-9).
Rechtfertigung als Rettung
Von hier aus könnte man den Schluss ziehen, dass Gottes Gerechtigkeit in seinem Handeln gegenüber Sündern zwangsläufig zu Gericht führt, während sie gegenüber Gerechten zur Rechtfertigung führt. Dieser Eindruck würde sich gut mit der deutschen Bedeutung von Gerechtigkeit und rechtfertigen vertragen. Doch zahlreiche alttestamentliche Stellen machen dieser Deutung einen Strich durch die Rechnung. Das häufig mit Gerechtigkeit übersetzte hebräische Wort meint nämlich noch mehr als die Übereinstimmung mit einer Norm und ist damit deutlich breiter als es der deutsche Begriff vermuten lassen würde. Er bezeichnet im Alten Testament auch die Erfüllung von Anforderungen, die sich aus einer Beziehung ergeben oder einen vollkommenen Zustand voll von Frieden und Heil, ohne den zerstörerischen Einfluss der Sünde. Es verwundert daher nicht, dass Gerechtigkeit an vielen Stellen sogar synonym mit Heil oder Rettung gebraucht wird. So betet der Psalmist „Mein Mund soll erzählen deine Gerechtigkeit, dein Retten den ganzen Tag” (Psalm 71,15; ähnlich auch Psalm 98,2), und Gott spricht umgekehrt: „Ich habe meine Gerechtigkeit nahe gebracht, sie ist nicht fern, und mein Heil zögert nicht.” (Jesaja 46,13; ebenso Jesaja 51,5.6.8). In beiden Fällen steht Gerechtigkeit inhaltlich auf einer Ebene mit Heil/Rettung, wie die Formulierung durch einen synonymen Parallelismus zeigt. Man kann daher Gerechtigkeit im Alten Testament häufig meist mit „der rechte Stand/Zustand” wiedergeben. Dabei entscheidet der Kontext darüber, ob an eine Beziehung, eine Verhaltensweise oder die Ordnung in Israel oder der ganzen Welt gedacht ist.
Rechtfertigung als Gerechtsprechung des Sünders
Im Ergebnis meint Rechtfertigen im Alten Testament Gottes Handeln, durch das er Menschen oder Dinge in den rechten Zustand versetzt, oder erklärt, dass jemand den rechten Stand vor ihm hat. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Gottes rechtfertigendes Handeln nicht nur das Endergebnis seines liebevollen und rettenden Handelns mit den Menschen ist, sondern sogar die Gesamtheit seines „heilvollen“ Handelns dem Menschen gegenüber beschreiben kann (vgl. Psalm 98,2). Es sind daher nicht nur Gerechte, die von Gottlosen bedrängt werden und Gottes Gerechtigkeit (d.h. sein Handeln, das den rechten und richtigen Zustand wiederherstellt) erwarten. Es sind paradoxerweise gerade solche, die ihre Sünde und Ungerechtigkeit vor Gott eingestehen und dennoch – oder gerade deshalb – Gottes Gerechtigkeit erwarten. So heißt es in Micha 7,9: „Das Zürnen des HERRN will ich tragen — denn ich habe gegen ihn gesündigt —, bis er meinen Rechtsstreit führt und mir Recht verschafft. Er wird mich herausführen an das Licht, ich werde seine Gerechtigkeit anschauen.” Diese Bitte macht nur Sinn, wenn als „Gerechtigkeit“ nicht das von Gott gerechterweise zu erwartende Gericht gemeint ist, sondern seine Rettung und sein gnädiges Handeln, durch das er sogar den Sünder wieder in den rechten Zustand versetzt. Ähnlich betet David „Erhöre mich in deiner Treue, in deiner Gerechtigkeit! Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht! Denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht” (Psalm 143,1-2). Und Daniel fleht: „Herr, nach all [den Taten] deiner Gerechtigkeit mögen doch dein Zorn und deine Erregung sich wenden von deiner Stadt Jerusalem, dem Berg deines Heiligtums! Denn wegen unserer Sünden und wegen der Vergehen unserer Väter sind Jerusalem und dein Volk zum Hohn geworden für alle rings um uns her” (Daniel 9,16). Die Beter erflehen gerade nicht Gottes ausgleichende Gerechtigkeit, die dem Sünder das gibt, was er verdient (nämlich Gericht), sondern Rettung. Eine Rettung, die völlig von der Gnade Gottes abhängt und damit unverdient ist. Sie erflehen Gottes gnädiges Handeln, durch das er sie wieder in einen Zustand versetzt, der vor Gott recht ist (vgl. besonders Jesaja 45,24-25).
Die Grundlage der Rechtfertigung des Sünders
Damit ergeben sich im Alten Testament zwei Bedeutungskomponenten von Rechtfertigung: Rechtfertigung ist einerseits eine göttliche oder gerichtlich wirksame Erklärung darüber, dass jemand im rechten Stand (also gerecht und richtig) ist. Andererseits ist es aber auch das Handeln, durch das sowohl Gerechte als auch Sünder in den rechten Stand/Zustand versetzt werden. Das macht deutlich, dass Rechtfertigung nach dem Alten Testament bereits Teil des rettenden Handelns Gottes an den Menschen ist. Damit ist aber noch nicht geklärt, auf welcher Grundlage Gott in dieser Weise handeln kann. Kann Gott einfach Gnade vor Recht ergehen lassen? Dass dem nicht so ist, wurde in den Stellen deutlich, in denen Gerechtigkeit auch eine Eigenschaft Gottes ist, die Gericht über Sünde zur Folge hat. Es ergibt sich damit ein Paradox, das nicht zuletzt im Begriff der Gerechtigkeit Gottes selbst begründet ist. Diese kann einerseits die Grundlage für Gottes Gericht sein, andererseits aber auch Gottes Rettung meinen. Den Schlüssel zu diesem scheinbaren Widerspruch liefert im Alten Testament bereits Jesaja 53: „Durch seine Erkenntnis wird der Gerechte, mein Knecht, den Vielen zu Gerechtigkeit verhelfen, und ihre Sünden wir er sich selbst aufladen“ (Jesaja 53,11). Nur durch Christus als den Knecht Gottes, der selbst gerecht (also im rechten Stand vor Gott), kann Gott den Vielen (ein Hinweis sowohl auf Juden als auch Heiden) zur Gerechtigkeit (also zum rechten Stand vor Gott) verhelfen, indem Christus sich ihre Sünden selbst auflädt. Es ergeht also nicht Gnade vor Recht. In Christus finden beide Aspekte der Gerechtigkeit Gottes – seine Gerechtigkeit als Grundlage für das Gericht über Sünde, und sein rettendes Handeln – zu einer Einheit zusammen. Dies setzt sich nahtlos in der neutestamentlichen Darstellung der Rechtfertigung fort.
Rechtfertigung im Neuen Testament
Rechtfertigung als gnädige Rettung Gottes
In Anknüpfung an die alttestamentliche Darstellung greift Paulus die unterschiedlichen Bedeutungskomponenten der „Gerechtigkeit Gottes“ im Römerbrief auf. Wenn es in Römer 1,17 heißt: „Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: «Der Gerechte aber wird aus Glauben leben»”, dann ist damit vermutlich in erster Linie wie im Alten Testament die Gerechtigkeit Gottes als Rettung vor dem Gericht (Römer 1,18ff) gemeint, die sich im Evangelium ausdrückt.[1] Ähnlich ist vermutlich auch der Bezug auf die „Gerechtigkeit Gottes“ in Römer 3,21-22 gemeint, die sich als rettende Gerechtigkeit in der Rechtfertigung des Gottlosen ausdrückt. Die Rechtfertigung des Sünders ist also auch hier das rettende Handeln Gottes, durch das er Sünder in den „rechten Stand“ vor Gott bringt (Römer 3,24-25a).
Rechtfertigung als gerichtliche Erklärung
Hier schwingt auch der Aspekt der Rechtfertigung als gerichtlich wirksame Erklärung mit: In der Rechtfertigung erklärt Gott aufgrund des Blutes Christi Sünder für tadellos, rein und unschuldig – eben für gerecht. Der direkte Anschluss zeigt, dass aber auch die andere Bedeutungskomponente der Gerechtigkeit Gottes, nämlich sein Gericht über die Sünde, aufs engste mit der Rechtfertigung verbunden ist. So weist Paulus darauf hin, dass der Tod Christi am Kreuz beweist, dass Gott im Hingehenlassen der Sünden in der Vergangenheit gerade nicht Gnade vor Recht ergehen lässt, sondern im Gegenteil ausdrückt, dass Gottes gerechter Charakter Sünde nicht ungestraft lassen kann (Römer 3,25b-26). In der Darstellung der Rechtfertigung in Römer 3,21-26 laufen damit mehrere alttestamentliche Stränge zusammen: (1) Die Thematik der paradox scheinenden rettenden Gerechtigkeit als Rettung des Sünders, (2) die Betonung der Gerechtigkeit Gottes als Grundlage seines Gerichts über Sünde, und schließlich (3) der Hinweis auf Christus als Zentrum der Rechtfertigung Gottes, in dem wie in Jesaja 53,11 beide Aspekte der Gerechtigkeit Gottes zusammenfinden und dazu führen, dass Sünder in den rechten Stand vor Gott versetzt und als gerecht erklärt werden.
Rechtfertigung als untadeliger Stand vor Gott
Die in Römer 3,21-26 beschriebene Rechtfertigung des Sünders auf der Grundlage der Vergebung durch das Blut Christi greift Paulus auch an anderen Stellen auf. In 1. Korinther 6,11 zeigt Paulus, was der Aspekt des rechten Standes vor Gott bedeutet: „Und das [nämlich Unzüchtige, Götzendiener, Diebe, Räuber, etc.] sind manche von euch gewesen; aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden durch den Namen des Herrn Jesus Christus.“ Rechtfertigung ist damit noch mehr, als das Abwaschen von Sünden („ihr seid abgewaschen“) von einem Unzüchtigen oder Götzendiener, es ist sogar noch mehr, als die Heiligung eines Diebes oder Räubers („ihr seid geheiligt“).
Rechtfertigung als Gerechtigkeit Christi
Durch die Rechtfertigung vergibt Gott nicht nur die Schuld und sieht den Sünder als geheiligt an, sondern er betrachtet ihn als wirklich Gerechten, der niemals eine Sünde getan hat. Nach 2. Korinther 5,21 ist es nichts weniger als die vollkommene Gerechtigkeit Christi, die Gott nun in den Gerechtfertigten sieht (vgl. Jesaja 53,11: „der Gerechte, mein Knecht, wird den Vielen zur Gerechtigkeit verhelfen“).
Zum Schluss: Gott sucht – und rechtfertigt
Gott sucht den Menschen. Ein Aspekt dieser Suche ist die Rechtfertigung des Sünders. Durch die Rechtfertigung macht Gott Sünder zu Gerechten. Rechtfertigung ist daher nicht nur das Endergebnis der Suche Gottes nach dem in Sünde gefallenen Menschen. Gerade im Alten Testament wird deutlich, dass die gnädige Rettung des Menschen selbst als Gottes handelnde Gerechtigkeit beschrieben wird, durch die der Mensch wieder in den richtigen Stand vor Gott versetzt und damit gerechtfertigt wird. Doch Rechtfertigung ist noch mehr als die Wiedergewinnung eines durch die Sünde verlorenen Standes vor Gott: Sie ist eine göttlich wirksame Erklärung und Neuschöpfung, durch der Sünder die Gerechtigkeit Christi zugerechnet bekommt. Grundlage und Mittelpunkt der Rechtfertigung ist Jesus Christus in seinem Leiden, Sterben und Auferstehen. Sie geht ganz von Gott aus und lässt dem Sünder nichts – weder Ruhm, noch Ehre, noch eigene Verdienste – aber auch nicht seine Sünde. Und doch gibt sie ihm alles: Die Gerechtigkeit Christi selbst, die ihn vor Gott untadelig, makellos, herrlich macht.
Zum Weiterdenken:
- Welche Bedeutung hat Gerechtigkeit und Rechtfertigung im Alten Testament? Was sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum landläufigen Verständnis der deutschen Worte „Gerechtigkeit“ und „Rechtfertigung“?
- Welche alttestamentlichen Bezüge sind Röm 1,17 und 3,21-26 in Bezug auf Rechtfertigung zu sehen?
- Welche Aspekte werden in der neutestamentlichen Lehre der Rechtfertigung genannt? Wo tauchen diese an anderen als den oben genannten Bibelstellen auf?
- Die Stelle ist natürlich viel diskutiert worden. In neuerer Zeit neigt die Mehrheit der Ausleger zu einem Verständnis, das in Römer 1,17 nicht die Gerechtigkeit Gottes als Grundlage für sein gerechtes Gericht, sondern seine rettende Gerechtigkeit sieht. ↑
In einer gekürzten Version bereits erschienen in: Perspektive 05/2015, 24-28.