Eine Geburt ist etwas Schönes. Ein neues Leben ist in die Welt gekommen, begleitet von Hoffnungen und guten Wünschen der Eltern und Verwandten für das neugeborene Kind. Das war auch zur biblischen Zeit nicht anders: Als der kleine Johannes (später „der Täufer“ genannt) geboren wurde, fragten sich die Leute „Was wird wohl aus diesem Kind werden?“ (Lk 1,66). Von dem Leben des erst wenige Tage alten Kindes wurde Großes erwartet.
Eine erstaunliche Geburt
Umso erstaunlicher sind manche Äußerungen zu einer anderen Geburt, die sich nur wenige Monate später ereignete. Ein Kind, noch keine 6 Woche alt, wird in den Tempel gebracht. Ein sehr alter Mann nähert sich dem Kind und gibt der Mutter – geleitet vom Heiligen Geist – eine verstörende Ankündigung mit auf den Weg: „Dieser ist gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird“ (Lk 1,34). Das kaum geborene Kind hat also kein einfaches Leben vor sich. Damit nicht genug, fügt er für die jungen Mutter hinzu: „Auch deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen“ (Lk 1,35). Was hier angedeutet wird, erfährt die Mutter des kleinen Jungens, als dieser drei Jahrzehnte später im besten Mannesalter auf grausamste Art gefoltert und zu Tode gebracht wird. Das ist Jesus selbst, die Mutter Maria und das angekündigte Schwert der Schmerz des getöteten Sohnes. So steht über der Geburt Jesu bereits der Schatten des Todes. Die üblichen Erwartungen auf ein langes und ruhiges Leben bei der Geburt eines Kindes sind hier von vorne herein zunichte gemacht. Jesus wurde geboren, um zu sterben.
Eine ungewöhnliche Bezeichnung
Was sich bei seiner Geburt ankündigt, setzt sich später konsequent fort. Als Jesus zu Beginn seines öffentlichen Dienstes zu Johannes dem Täufer an den Jordan kommt, bezeichnet dieser ihn vor der versammelten Menschenmenge als „Lamm Gottes, das die Sünden der Welt wegnimmt“ (Joh 1,29). Der alttestamentliche Bezug, der hier hergestellt wird, ist auf verschiedene Weise gedeutet worden: Auf den leidenden Gottesknecht (Jes 53,7), auf das Passahlamm (2.Mo 12,5ff), auf das Tamidopfer (2.Mo 29,38ff) oder auf das Schaf aus 1.Mo 22,8. Eines aber ist bei allen Deutungen gleich: Das Lamm wird geschlachtet. Es kommt nicht lebend davon. Die Bezeichnung „Lamm Gottes“ mag heute poetisch oder feierlich klingen – in ihrem Kern ist sie schmucklos und hart: Hier wird bezeugt, dass das Leben Jesu in einem bewusst und gewaltsam herbeigeführten Tod enden wird. Die in der ganzen Bibel völlig einzigartige Bezeichnung „Lamm Gottes“ (nur in Joh 1,29.36) zeigt, dass Jesus dabei von Gott selbst als das Lamm auserwählt wurde. Das Ziel ist kein geringeres, als die Sünden der ganzen Welt wegzunehmen. Wenn Jesus schon ganz am Anfang seines öffentlichen Dienstes – noch bevor er einen einzigen Jünger berufen oder ein erstes Wunder getan hat – als Lamm Gottes bezeichnet wird, dann steht das als Überschrift über seinem ganzen öffentlichen Auftreten. Dann wird damit auch das Missverständnis ausgeräumt, dass sein Tod ein Unfall war. Und dann wird damit gleich zu Beginn seines Dienstes unmissverständlich klargestellt, dass er geboren wurde, um zu sterben.
Eine radikale Mission
In den nächsten zwei Jahren beruft Jesus seine Jünger, tut Wunder und verkündigt das Reich Gottes. Man könnte meinen, der göttliche Plan im Tod, der von Sünde freimacht, sei aus dem Blick geraten. Oder es habe ihn vielleicht nie wirklich gegeben. Diesen Eindruck wenigstens haben seine Jünger. Sie erwarten, dass Jesus sich öffentlich als König Israels präsentiert und in einem Erweis seiner Macht die Vorherrschaft der Römer bricht. Sie erwarten, dass Jesus das Volk wieder zur Frömmigkeit ruft und unter seiner Führung vor Gott vereint. Doch mit einem rechnen sie nicht: Dass Jesus selbst seine Berufung als Lamm Gottes nie aus dem Blick verloren hat. Dass in der Vorstellung Jesu und der seiner Jünger früher oder später zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, ja treffen müssen, wird spätestens bei den Leidensankündigungen klar.
Eine schockierende Ankündigung
Etwa ein Jahr vor seinem Sterben beginnt Jesus, seine Jünger gezielt darauf vorzubereiten, dass es seine Berufung und Lebensaufgabe ist, zu leiden und schließlich zu sterben: „Von der Zeit an begann Jesus seinen Jüngern zu zeigen, dass er nach Jerusalem hingehen müsse und von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten vieles leiden und getötet und am dritten Tag auferweckt werden müsse.“ (Mt 16,21). Nicht zufällig folgt diese erste von drei Leidensankündigungen in den Evangelien direkt auf das Christus-Bekenntnis von Petrus (Mt 16,15-20). Offensichtlich will Jesus ein falsches Messias-Verständnis korrigieren, das bei den Jüngern vorherrscht. Wie stark dies in ihren Köpfen verankert ist, zeigt sich in der brüsken Zurückweisung der Leidensankündigung durch Petrus, der Jesus von den anderen Jüngern wegzieht und ihm mit den Worten „Dies wird dir keinesfalls widerfahren“ (Mt 16,22) solche – wie er meint – verschobenen Gedanken austreiben will. Die Wahrheit aber ist, dass sich hier eine Konfrontation zweier Denkweisen abspielt, die letztlich auf den göttlichen Plan einerseits und das natürliche menschliche Denken andererseits zurückgeführt werden können (Mt 16,23). Auf der einen Seite steht das Wissen Jesu, auf diese Welt gekommen zu sein, um als Lamm Gottes zu leiden und zu sterben und damit Gottes Plan zu erfüllen. Auf der anderen Seite stehen die völlig menschlichen Hoffnungen und Vorstellungen der Jünger darüber, zu was es Jesus in seinem Leben noch bringen könnte, in die der Tod Jesu natürlich gar nicht hineinpasst.
Ein außergewöhnliches Vorbild
Dass die Verwechslung der menschlichen mit der göttlichen Sichtweisen auch heute noch eine ernstzunehmende Gefahr für Jünger Jesus sind, zeigt die anschließende Ermahnung Jesu „Wenn jemand mir nachkommen will, verleugne er sich selbst und nehmen sein Kreuz auf und folge mir nach!“ (Mt 16,24).Seine Nachfolger aller Zeiten sollen demnach die gleiche Perspektive haben, wie ihr Herr: Die Perspektive eines bewusst für Gott hingegebenen Lebens. Das ist die Perspektive eines Lebens, das sich nicht im Hier und Jetzt oder in der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse erschöpft. Das ist die Perspektive eines Lebens, das nicht den guten Wünschen auf ein langes Leben oder Selbstverwirklichung bei der Geburt folgt, sondern einzig und allein die Selbsthingabe des eigenen Lebens für Gott und seinen Plan im Blick hat. Hier ist Jesus das größte Vorbild. Er lässt sich nicht davon abbringen, sein Leben ganz für Gott hinzugeben – bis hin zum physischen Tod. Im Gegensatz dazu muss ein hingegebenes Leben für Nachfolger Jesu nicht den physischen Tod bedeuten (obwohl das heute in vielen Teilen der Erde so ist), aber es ist ein Leben, das bereit ist, die eigenen Wünsche um Jesu willen aufzugeben. Ein Leben, das mit dem krampfhaften Streben nach persönlichem Glück abgeschlossen hat, und sich nach dem Vorbild Jesu radikal den Plänen Gottes zur Verfügung stellt, ist kein verlorenes, sondern ein gewonnenes Leben: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden“ (Mt 16,25). Diese Perspektive hat niemand konsequenter vorgelebt als Jesus selbst, der bereit war, für Gott zu leiden und zu sterben.
Ein zielorientiertes Leben
Tatsächlich stößt diese radikale Perspektive Jesu in ihrer letzten Konsequenz häufig auf Unverständnis – heute wie damals. Bei der zweiten Leidensankündigung wird von den Jüngern gesagt: „Sie verstanden dieses Wort nicht, und es war vor ihnen verborgen, dass sie es nicht begriffen“ (Lk 9,45). Jesus lässt sich von diesem Unverständnis weder beirren noch abbringen: „Er richtete sein Angesicht fest darauf, nach Jerusalem zu gehen“ (Lk 9,51). Immer stärker lenkt er seinen Blick auf sein bevorstehendes Sterben. Ganz bewusst. Im völligen Bewusstsein seiner Mission. Im völligen Bewusstsein seiner Berufung als Lamm Gottes. Im Wissen darum, dass er geboren wurde, um zu sterben und sein Leben „als Lösegeld für viele“ zu geben (Mk 10,45).
Ein gewaltiger Ausblick
Er hat dabei aber auch immer im Blick, was auf sein Sterben folgt. In seinen Leidensankündigungen sieht Jesus weiter auf die Auferstehung (Mt 16,21). Er sieht auf seine Wiederkunft, und auf das zukünftige Gericht (Mt 16,27). Er sieht auf eine Schaar von „vielen“, die durch ihn erlöst werden (Mk 10,45). Er sieht darauf, dass Satans Macht zerstört wird und der „Fürst dieser Welt hinausgeworfen“ wird (Joh 12,31). Und er sieht darauf, dass er für die Wahrheit Zeugnis gegeben hat und ein Reich erwartet, dass nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36-37). Denn seine große Mission, zu der er geboren wurde – sein Leben als Lamm Gottes hinzugeben – war kein Scheitern, war kein Verlust. Es war der größte Triumph der Weltgeschichte. Es war ein Ereignis kosmischen Ausmaßes, nach dem weder die sichtbare noch die unsichtbare Welt die gleiche war wie vorher. Vermutlich hat der Verfasser der folgenden Zeilen diese zahlreichen Aspekte dessen, was auf das Sterben Jesu folgt, im Blick gehabt, wenn er Jesus als den beschreibt, „der um der vor ihm liegenden Freude willen die Schande nicht achtete und das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes“ (Hebr 12,2).
Eine bleibende Motivation
Vielleicht hilft gerade heute dieser Blick auf den, der „soviel Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat“, um nicht zu ermüden, zu ermatten und die Motivation zu verlieren (Hebr 12,3). Und vielleicht hilft gerade heute dieser Blick auf die zukünftigen Freuden, um sich immer wieder auf die Berufung Gottes zurückzubesinnen. Ein radikal investiertes Leben ist nicht verloren, sondern gefunden (Mt 16,25). Geboren um zu sterben – das ist etwas einzigartiges, das sich in dieser Konsequenz nur im Leben des Herrn Jesus findet. Aber (neu-)geboren zu sein um sein Leben ganz Gott zu weihen und sich vom Blick auf eine herrliche Zukunft motivieren zu lassen – das ist die bleibende Berufung für jeden Nachfolger des Herrn Jesus.
Zuerst erschienen in: Perspektive 03/2014, 17-19