Das höchste Gebot: Ein Imperativ zur Liebe!

Das höchste Gebot: Ein Imperativ zur Liebe!

Ein Bibelkenner kommt zu Jesus und fragt ihn: „Was ist das höchste Gebot?“ Schon zur Zeit Jesu kam nämlich immer wieder die Streitfrage auf, welches der 613 Gebote des Gesetzes denn das wichtigste ist. Welches Gebot ist sozusagen die Summe aller anderen Gebote und fasst alle anderen zusammen? Jesus antwortet: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzem Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand“ (Matthäus 22,37) – und zitiert dabei wörtlich das Gebot aus 5.Mose 6,5. Dieses Gebot nennt er „das größte und erste Gebot“, und stellt ihm nur noch das Gebot der Nächstenliebe gleich (Matthäus 22,38-39). Zumindest der erste Teil der Antwort war gängig und akzeptiert. Gott zu lieben ist zweifellos das höchste und wichtigste Gebot, das durch viele weitere Gebote eigentlich nur konkretisiert wird. Doch damit fangen die Fragen erst richtig an: Weshalb kann Gott Liebe fordern? Warum ist gerade dieses Gebot so wichtig? Und was macht man, wenn einem die Liebe zu Gott fehlt?

Der Grundlage der Liebe: Gottes Liebe zu seinem Volk

Schauen wir uns also das Gebot, Gott zu lieben, einmal in seinem alttestamentlichen Zusammenhang an. Das Gebot findet sich im Gesetz nur an einer einzigen Stelle, nämlich in 5.Mose 6,5. Der Aufbau und Kontext von 5.Mose verrät einiges über Sinn, Absicht und Bedeutung des Gebots. Das ganze Buch ist eine Wiederholung des Gesetzes und dient dazu, den Bund, den Gott mit Israel am Sinai geschlossen hat, für die in der Wüste aufgewachsene neue Generation zu erneuern. Doch dieser Bund beginnt nicht mit dem Liebesgebot. Er beginnt nicht mit dem, was Israel tun soll, sondern mit dem, was Gott für Israel getan hat. In vier ganzen Kapiteln (5.Mose 1-4) erzählt Mose ausführlich von Gottes Treue bei der Wüstenwanderung (z. B. 2,7), Gottes Durchtragen bei der Eroberung der ersten Gebiete des Landes (z. B. 2,33; 3,3), von der Erlösung vor dem sicheren Tod in Ägypten (z. B. 4,20) und sogar davon, dass Gott seine Treue sogar im zukünftigen Ungehorsam Israels weiter halten wird (z. B. 4,31). Ist es nicht interessant, dass die erste Erwähnung des Wortes „lieben“ für die Liebe Gottes bei der Erwählung Israels und der Herausführung aus Ägypten gebraucht wird (4,37), bevor Israels selbst zur Liebe aufgefordert wird? Der Kontext der Liebe ist eindeutig: Gott erlöst sein Volk und führt es zu sich. Erst auf dieser Basis kann von der Liebe zu Gott die Rede sein.

Der Kontext der Liebe: Eine Liebes-Beziehung zu Gott

Schon am Sinai war genau dies die Reihenfolge: Gott erlöst sein Volk und erst auf dieser Basis, also erst als Folge der Erlösung aus Ägypten, schließt Gott den Bund mit Israel (2.Mose 19,4-5). Mit dem Bund wird die Beziehung Gottes zu Israel feierlich besiegelt, ähnlich wie bei einer Eheschließung. Nicht ohne Grund sind die Ausdrücke wie „Ich will euch zum … annehmen“, „ich will für euch … sein“, „ich werde euch zu/in … bringen“ (2.Mose 6,6-8) und „ihr sollt mein Eigentum sein“ (2.Mose 19,6) typische Formulierungen, wie sie bei Eheschließungen der damaligen Zeit verwendet wurden. Entsprechend beschreibt Gott selbst den Bund später als Eheschluss zwischen sich und Israel (Hesekiel 16,4ff). Und auch in Versen, die in 5.Mose auf das Liebesgebot folgen, spricht Mose immer wieder von der Liebe Gottes zu Israel und verwendet dabei das Wort „zuneigen“ (5.Mose 7,7; 10,15), das sonst auch für die liebende Zuneigung eines Mannes zu einer Frau verwendet wird.[1] Die Sprache in allen diesen Stellen ist eindeutig: Gott geht eine Liebesbeziehung zu Israel ein. Seine Liebe und Zuneigung zu Israel steht an erster Stelle und wird durch den (Ehe-)Bund besiegelt. Dass das Gebot, Gott zu lieben in 5.Mose 6,5 in genau diesem Kontext steht, macht deutlich: Liebe zu Gott ist die logische und naheliegende Antwort der Liebe Gottes zu seinem Volk. Es gibt diese Liebe zu Gott nur in einer festen Beziehung, die durch Gott initiiert, durch seine Liebe getragen und auch in der Untreue der Menschen aufrechtgehalten wird. Es sollte von daher klar sein, dass beim Gebot, Gott zu lieben, nicht an eine erzwungene, sondern an eine freiwillige Liebe zu Gott gedacht ist. Es sollte auch klar sein, dass Gott nichts fordert, was er nicht vorher schon selbst gegeben hätte und weiter gibt (nämlich Liebe).

Die Art der Liebe: Bedingungslose Treue

Obwohl der weitere Kontext des Liebesgebotes also auf eine durchaus emotionale Liebe im Rahmen einer Liebes-Beziehung hinweist, stehen im direkten Kontext des Gebotes in 5.Mose 6,5 andere Aspekte im Vordergrund. Das Gebot, Gott zu lieben, steht im Gesetz an einer sehr zentralen Stelle, die seine Bedeutung als „erstes Gebot“ widerspiegelt: Es folgt unmittelbar auf das sogenannte Sch’ma Israel (das ist die hebräische Übersetzung der Einleitung „Höre Israel“ in 5.Mose 6,4), das die Einzigartigkeit und damit auch den Alleinverehrungsanspruch Gottes wie an kaum einer anderen Stelle zum Ausdruck bringt. Es ist nur folgerichtig, dass sich daran das Gebot anschließt, Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben. Dem alleinigen Gott gebührt die ungeteilte Liebe des Menschen. Doch wie sieht diese genau aus? Im Kontext von 5.Mose kommt das Gebot der Aufforderung zur bedingungslosen Bundestreue gleich. Schon lange haben Ausleger bemerkt, dass das fünfte Buch Mose in Form eines altorientalischen Vertragstextes gestaltet ist, wie er in Bünden dieser Zeit verwendet wurde. In solchen Vertragstexten gehört das Wort „lieben“ zum Standardvokabular. Es meint dort nicht das emotionsreiche Lieben oder gar Verliebtsein, wie man es heute von Film und Fernsehen kennt. Es wird dort vielmehr gleichbedeutend mit „den Bund in Treue halten“ verwendet.[2] Genau in diesem Sinne wird es auch in den 10 Geboten verwendet, wie aus der Formulierung „denen, die mich lieben und meine Gebote halten“ und der Umkehrung „denen, die mich hassen“ in 5. Mose 5,9-10 deutlich wird. Gott zu „lieben“ heißt daher zunächst einmal, ihm die Treue entgegenzubringen, die ihm als alleinigem Gott und Geber der Bundesbeziehung zusteht. Und das schließt auch das Halten der Gebote ein, die Gott Israel gegeben hat, wie die direkte Fortsetzung zeigt (5.Mose 6,6).

Darf Gott Liebe fordern?

Das Gebot, Gott zu lieben, ist also im weiteren Kontext von 5.Mose die Antwort einer von Gott begonnenen Liebes-Beziehung zu Israel. Im direkten Kontext wird jedoch ein weiterer Aspekt deutlich, der weniger mit Emotionen als mit bedingungsloser Treue zu Gott in einer festen Beziehung zu tun hat. Und damit wird auch klar, weshalb Gott Liebe überhaupt fordern kann. Emotionale Zuneigung kann man sich wünschen, aber nicht fordern. Treue schon. Gott ist eben nicht nur der Partner in einer Liebesbeziehung. Er ist der alleinige Gott! Allein deshalb schon kann er Verehrung und Treue erwarten. Dass er sich zusätzlich seinem Volk gegenüber als Erlöser und Ehemann zeigt, macht diese Forderung umso selbstverständlicher. Natürlich darf Gott bedingungslose Treue fordern!

Liebe mit Verstand

Doch was meint der Zusatz, Gott mit „ganzem Herzen“ zu lieben? Im Deutschen klingt das sehr nach Emotionen. Das Herz ist im Hebräischen zwar auch der Sitz der Gefühle, in weit mehr Stellen aber eher das, was wir als „Verstand“, „Vernunft“, „Gedächtnis“ und „Willensentschluss“ bezeichnen, also der Sitz des Nachdenkens, Urteilens, Verstehens und Entschließens. Gott mit „ganzem Herzen“ zu lieben meint daher vor allem, ihn mit unserem ganzen Verstand und ganzem Willensentschluss zu lieben.[3] Dementsprechend folgt direkt auf das Liebesgebot in 5.Mose 6,6 die Aufforderung, die Worte, die Gott gebietet, „im Herzen“ zu haben. Das bedeutet nichts anderes, als die Gebote Gottes ständig im Sinn und im Gedächtnis zu haben, wie aus der folgenden Beschreibung („Merkzeichen“, Gebote „einschärfen“, sie sich bei allen Tätigkeiten in Erinnerung rufen) deutlich wird. Noch einmal: Kann Gott Liebe fordern? Ja, weil diese Liebe eben auch ein Willensentschluss zur bedingungslosen Treue ist. Ja, weil diese Liebe eben auch die Vernunft und das bewusste Erinnern einschließt. Ja, weil diese Liebe eine bewusste Treue zu Gott und seinen Geboten in jeder Situation des Lebens beinhaltet. Es verwundert daher nicht, dass der Herr Jesus selbst sagt: „Wenn ihr mich liebt, werde ihr meine Gebote halten“ (Johannes 14,16).

Liebe mit der ganzen Person

Doch es wäre zu wenig, wenn damit die Liebe zu Gott schon ganz charakterisiert wäre. Sie umfasst noch einen weiteren Aspekt, wie aus dem Kontext des Gebotes in 5.Mose 6,5 deutlich wird. Dass bei der Liebe zu Gott nämlich nicht an eine rein vernünftige Handlung gedacht ist, die den Rest des Menschen unbeteiligt lässt, macht die Fortsetzung in 5.Mose 6,5 deutlich: Gott „mit ganzer Seele“ lieben meint, ihn mit der ganzen Person zu lieben. Die „Seele“ ist im Hebräischen nicht nur das Innere des Menschen, sondern der Mensch als ganze Person. Gott möchte Liebe mit der ganzen Person, die den ganzen Menschen einschließt. Dazu gehören die individuelle Persönlichkeit des Menschen, seine Gefühle und Empfindungen, seine Geschichte und seine Situation. Gott möchte nicht nur die Liebe eines kleinen Teils von uns. Er will uns ganz. Das macht auch der Zusatz „mit ganzer Kraft“ deutlich. Damit ist nicht zuerst die körperliche Kraft, sondern das gesamte Vermögen und Können des Menschen gemeint. Gott möchte Liebe mit allen Möglichkeiten des Menschen, also mit körperlicher Kraft, Zeit, Geld, Besitz, allen seinen Fähigkeiten und seinen sonstigen sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Zusammengefasst: Die Dimensionen der Liebe

Die Liebe zu Gott basiert also darauf, dass er als alleiniger und einzigartiger Gott (5.Mose 6,4) Israel geliebt und erlöst hat. Sie ist daher einerseits Antwort auf eine von Gott begonnenen und getragenen Liebes-Beziehung, die mit einer Ehe-Beziehung verglichen wird. Damit ist sie jedoch keine rein emotionale Liebe, sondern wird zugleich als bedingungslose Treue zu Gott innerhalb dieser Beziehung charakterisiert. Sie umfasst daher den ganzen Menschen mit Verstand, Wille, Gefühl, Leib sowie allen seinen Möglichkeiten (5.Mose 6,5) und äußert sich in allen Lebensbereichen durch Gehorsam Gottes Geboten gegenüber (5.Mose 6,6).

Liebe praktisch: Was ist, wenn mir die Liebe zu Gott fehlt?

Gott möchte unsere ganze Liebe – doch was ist, wenn ich bei mir Defizite in der Liebe zu Gott feststelle? Dann gibt es erstmal eine gute Nachricht: Das Gebot in 5.Mose 6,5 ist an Menschen gerichtet, denen es genauso geht. Mose weiß sehr genau, dass die Israeliten, die vor ihm stehen, deutliche Defizite in der Liebe zu Gott haben. Er kennt ihre Widerspenstigkeit (5.Mose 1,26.43; 9,7.24), ihr mangelndes Vertrauen (1,32), ihren Unglauben und Ungehorsam (9,23), ihre mangelnde Gotteserkenntnis (29,3) und ihre Halsstarrigkeit (9,6.13; 31,27). Er weiß sogar, dass sie auch in Zukunft verstockt sein werden und Gottes Gebote missachten werden (31,16).

Das alles hält Mose aber trotzdem nicht davon ab, das Volk in den Bund mit Gott zu führen. Und vielleicht zeigt gerade die Art und Weise, wie Mose mit diesem Volk umgeht, den Weg zur Liebe zu Gott, auch wenn sie im Augenblick fehlt. Vielleicht ist es gerade dann, wenn mir die Liebe zu Gott fehlt nicht angezeigt, mit dem Imperativ zur Liebe zu beginnen, sondern – so wie es Mose in der Schrift tut – damit anzufangen, das Volk neu für die Liebe Gottes zu erwärmen und so verhärtete Herzen zu erweichen (vgl. den Prolog in 5.Mose 5,1-4). Erst dann folgt die Aufforderung zur Liebe, weil sie dann eine natürliche Antwort auf die Liebe Gottes wird. Und selbst dieser Imperativ zur Liebe wird von Mose immer wieder von ausführlichen Hinweisen auf die Liebe Gottes begleitet (z. B. 5.Mose 7,6-9.12-13; 10,15) und durch den häufigen Verweis darauf untermauert, was Gott für sein Volk getan hat, tut und tun wird.[4] Es ist eben nicht so, dass Gott einmal seine Liebe erwiesen hat und nun mit verschränkten Armen auf unsere Antwort wartet. Er erweist seine Liebe auch in Zukunft weiter – und erwies sie schließlich sogar in einer Gabe, die die Israeliten noch nicht einmal ahnten: In der Dahingabe seines Sohnes (Röm 5,5-10; 8,32-39).

Der Hinweis auf Gottes Liebe macht also harte Herzen weich. Und trotzdem wartet Mose mit dem Imperativ zur Liebe nicht, bis alle Hartherzigkeit durch den Hinweis auf Gottes Taten überwunden ist, weil die Liebe zu Gott eben auch ein Willensentschluss ist. Irgendwann muss auch der Verstand sagen: Ja, ich will. Ohne diesen Entschluss entsteht keine Ehe, und ohne ihn hält keine Ehe. Gott gibt überwältigende Motivation zur Treue. Aber wie in jeder Beziehung ist Treue auch ein Entschluss. Und auch zu diesem Entschluss gibt Mose einen Hinweis zur Umsetzung: Sie fängt vielleicht gerade damit an, alle Lebensbereiche sehr bewusst mit Gott anzugehen und ihn beim Schlafen, Aufstehen, Gehen und Arbeiten nicht mehr aus den Augen zu verlieren (5.Mose 6,6). Gott gab sich ganz für uns – und er will uns ganz.

 

Anmerkungen:

  1. So z. B. in 1.Mose 34,8 oder 5.Mose 21,11.
  2. Sogar in der Bibel finden sich Beispiele dieser Verwendung. Wenn es in 1.Könige 5,15 heißt „Hiram war nämlich allezeit ein Freund Davids gewesen“ (Elberfelder), dann steht dort wörtlich: „Hiram hatte David allezeit geliebt“. Damit ist nichts anderes gemeint, als das David und Hiram einen Bund hatten (vgl. ähnlich auch Salomo in 1.Könige 15,26).
  3. Vermutlich wird genau aus diesem Grund bei der Wiedergabe im Griechischen „mit ganzem Verstand“ hinzugefügt (Matthäus 22,37; Markus 12,30; Lukas 10,27), um dem Missverständnis einer rein emotionalen Bedeutung von „Herz“, wie sie bei der Übertragung aus dem Hebräischen in eine andere Sprache entstehen könnte, entgegenzuwirken.
  4. Man versuche nur einmal, in 5.Mose 6-11 alle Verse zu markieren, die genau davon sprechen. Im Durchschnitt ist das in jedem sechsten Vers der Fall.

 

Zuerst erschienen in: Perspektive 06/2016, 10-13.

 

 

Benjamin Lange
Benjamin Lange
Dr. Dr. Benjamin Lange hat Musik, Mathematik und Theologie studiert und in Mathematik und Theologie promoviert. Er arbeitet als Bibellehrer in Gemeinden und verschiedenen Bibelschulen. Außerdem ist er als Buchautor und in der Elberfelder Bibelkommission aktiv.

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