Das Rätsel der Strieme

Das Geheimnis der Strieme

Unbemerkt schlummert ein Rätsel vor sich hin. Es wird von Bibellesern nicht bemerkt, weil man es in deutschen Bibelübersetzungen gar nicht erkennt. Dabei enthält es faszinierende Gedanken. Es ist das Geheimnis der Strieme.

Eine einzige Strieme?

Vor einiger Zeit sind wir in der Elberfelder Bibelkommission über folgenden Vers gestolpert:

Doch er war durchbohrt um unserer Vergehen willen, zerschlagen um unserer Sünden willen. Die Strafe lag auf ihm zu unserm Frieden, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden. (Jesaja 53,5)

Hier ist prophetisch von Jesus die Rede, der unsere Sünden getragen hat. Er ist der Gottesknecht, um den es in Jesaja 52,13-53,12 geht. Soweit, so klar. Doch eine Sache ist merkwürdig: Das Wort „Strieme“ steht im Hebräischen nicht (wie es die meisten deutschen Übersetzungen nahelegen) in der Mehrzahl, sondern in der Einzahl – als nicht „Striemen“, sondern „Strieme“. Merkwürdig. Im Hebräischen ist der Unterschied eigentlich nur ein einziger Buchstabe, der wie ein Strich aussieht. Man erwartet ihn, aber er steht hier absichtlich nicht. Sein Fehlen zeigt, dass hier nur von einer Strieme die Rede ist. Aber wieso nur eine einzelne Strieme? Wurde Jesus nicht sehr häufig geschlagen? Und macht die Verheißung überhaupt Sinn, wenn dort nur von einer einzigen Strieme die Rede ist?

Jesaja 53 in der großen Jesajarolle aus Qumran (1QJes a). Die rote Markierung ist das hebräische Wort "Strieme" in Jes 53,5.

Und damit noch nicht genug, es gibt noch ein weiteres Problem, das mit der sogenannten Vokalisierung des hebräischen Textes zu tun hat. Der hebräische Text des Alten Testaments wurde ursprünglich nur mit Konsonanten geschrieben und enthielt keine Vokale. Und genau hier liegt ein weiteres Problem bei der „Strieme“ in Jes 53,5: Die Vokale der jüdischen Gelehrten scheinen hier keinen rechten Sinn zu machen. Genauer gesagt handelt es sich sogar nur um einen einzigen Punkt (ein sogenanntes „Dagesch“), der hier bewusst weggelassen wurde, der aber die Aussprache und den Sinn des Wortes verändert.

Das absichtlich nicht gesetzte Dagesch in Jesaja 53,5 (Codex Aleppo)

Gehen wir den Dingen auf den Grund.

Der Hinweis zur Lösung

Der Hinweis zur Lösung des Rätsels steht ganz am Anfang des Buches Jesaja. Auch hier ist von einer Strieme die Rede. Obwohl auch hier fast alle Bibelübersetzungen mit der Mehrzahl „Striemen“ übersetzen, steht auch hier im Hebräischen die Einzahl. Und was noch auffällt: Auch die Ausdrücke „Wunden“ und „Schläge“ stehen im Hebräischen in der Einzahl, denn hier heißt es wörtlich:

Von der Fußsohle bis zum Haupt ist keine heile Stelle an ihm: Wunde und Strieme und frischer Schlag; sie sind nicht ausgedrückt und nicht verbunden, noch mit Öl gelindert. (Jesaja 1,6)

Die dreimalige Einzahl macht hier doch eigentlich gar keinen Sinn, schließlich heißt es doch vorher, dass von Kopf bis Fuß keine heile Stelle zu finden ist!? Hier sind wir am entscheidenden Punkt angelangt. Offenbar sind viele Wunden und Striemen und Schläge gemeint, obwohl nur die Einzahl dasteht. Aber warum schreibt man dann nicht einfach die Mehrzahl?

Der Beginn des Buches Jesaja in der großen Jesajarolle aus Qumran (1QJes a)

Der Schlüssel dazu liegt in der poetischen Natur der Passage und darin, dass im biblischen Hebräisch oft kraftvolle rhetorische Bilder verwendet werden. Die Einzahl ist hier ein Stilmittel, das wie ein Zoom-Effekt bei einem Foto den Blick auf eine einzelne Strieme lenkt, obwohl es davon sehr viele gibt. Die Einzahl ist also kein Fehler, sondern hohe Schreibkunst!  (Auf Fachchinesisch: Es ist eine Metonymie, bei der ein kollektiver Singular pars pro toto für die Gesamtheit der Leiden steht)

Wenn man diesen Effekt etwas freier ins Deutsche übersetzen möchte, müsste man es so sagen:

Jetzt schau dir das an – von Kopf bis Fuß ist keine einzige Stelle mehr heil. Hier: eine Wunde … da eine Strieme … da ein frischer Schlag – und sie alle sind nicht gereinigt oder verbunden oder medizinisch behandelt!

Ganz eindeutig ist hier nicht nur eine Wunde, eine Strieme und ein frischer Schlag gemeint. Die Einzahl der Strieme (genau wie von Wunde und Schlag) steht also dafür, den Blick auf jede einzelne Strieme zu lenken, die als Strafe erfolgt ist. Jede ist schlimmer als die Nächste. Das ist ein sprachliches Mittel, um die Folgen der Sünde Israel drastisch in den Mittelpunkt zu rücken. Und gleichzeitig wird damit die Frage hervorgehoben, wo eine weitere Strieme noch Platz haben könnte. Wie kann ein so derart Verwundeter nur noch eine weitere Strieme aushalten?

Natürlich handelt es sich hier nur um einen Vergleich, denn die Strafe und Zurechtweisung Israels bestand nicht in körperlichen Schlägen, sondern in der Verwüstung des Landes, der Ernte und der Städte durch Feinde (Jesaja 1,7-8). Ganz real würde eine weitere Züchtigung Gottes daher bedeuten, dass Israel vom Erdboden völlig vertilgt und vernichtet werden müsste, wie damals Sodom und Gomorra (Jesaja 1,9).

Die Botschaft ist also eindeutig: Die Sünde Israels – und hier ist kein Mensch besser – ist so gravierend, dass jede Zurechtweisung versagt, kein Mittel zu einer Besserung führt und jede Bestrafung zwangsläufig die Vernichtung nach sich ziehen würde. Eben wie bei einem Menschen, der von Kopf bis Fuß schon Wunden, blutige Striemen, unbehandelte und frische Schläge aufweist. Der Mensch kann die Strafe, die er verdient hat, einfach nicht tragen.

Die Lösung des Rätsels

Hier kommen wir zurück zu Jesaja 53,5. Indem auch hier bewusst nur von einer einzigen Strieme die Rede ist, wird bewusst an Jesaja 1,6 angeknüpft. Damit wird deutlich: Der Gottesknecht – prophetisch also Jesus – wird genau das tragen, was Menschen nicht mehr tragen. Und wieder wird die Strieme in der Einzahl beschrieben, um den Blick darauf zu lenken. Der steht sozusagen:

Schau hin, hier ist eine Strieme, schau sie dir an! Genau das ist die Strafe, die du verdient hättest. Genau das ist die Strieme, die du nicht mehr tragen konntest, sonst hätte Gott dich vernichten müssen. Und genau diese Strieme hat er für dich erlitten!

Die Einzahl ist also auch hier ein sprachliches Mittel, um den Blick zu fokussieren. Die einzelne Strieme steht stellvertretend für alle Leiden (also auch nicht nur die tatsächlichen Striemen einer Geißel, sondern alle Wunden, Schläge, Verletzungen und Leiden), die der Gottesknecht – Jesus – erlitten hat.

Was ist mit dem Punkt?

Was aber ist mit dem zweiten Problem, dem fehlenden Punkt in der Vokalisierung von Jesaja 53,5?

Hier wird es noch spannender. Die jüdischen Gelehrten, die die Vokalzeichen im hebräischen Text vorgenommen haben – die sogenannten Masoreten – haben durch den fehlenden Punkt einen Hinweis auf eine kunstvolle Doppeldeutigkeit im Text gegeben. Sie haben verstanden, dass man das hier verwendete Wort auf zwei Arten vokalisieren kann, so dass sich zwei mögliche Bedeutungen ergeben. Man hier nämlich nicht nur „Strieme“, sondern (mit einer anderen Vokalisierung) auch „Gemeinschaft“ lesen!

So erscheint der Vers in einem völlig neuen Licht, wenn er auch folgenden Aspekt anklingen lässt:

„Durch seine Gemeinschaft ist uns Heilung geworden.“

Die Heilung kommt dadurch, dass der Gottesknecht an unsere Stelle tritt und das trägt, was wir verdient hätten. Er ist zu uns gekommen, hat Gemeinschaft mit uns gesucht. Und dann hat er an unserer Stelle die Bestrafung auf sich genommen und uns zugerechnet. Das ist diese „Gemeinschaft“, von der hier die Rede ist.

Im neuen Testament wird dieser Gedanke sehr häufig ausgedrückt. Man lese nur einmal Römer 6,4-8; Epheser 2,5-6 oder 3,6. In dem Messias – also „in Christus“ –, sind wir „mitgekreuzigt“, „mitverwachsen“ in seinem Tod, „mitbegraben“, „mitauferweckt“ (Röm 6,4-8), können „mitleben“, „mitsitzen“ im Himmel (Eph 2,5-6), sind damit „Miterben“, „Miteinverleibte“ und Mittelhaber“ (Eph 3,6)! Das ist genau der gleiche Gedanke von Jes 53,5: Durch die Gemeinschaft mit ihm – in dem Gott uns in Christus betrachtet – ist uns Heilung geworden.

Welche Übersetzung ist denn nun die Richtige?

Doch welche Deutung stimmt nun? „Strieme“ oder „Gemeinschaft“? Eines ist klar: „Strieme“ bleibt die eigentliche Bedeutung und steht zu Recht in fasst allen Übersetzungen. Das geht klar aus dem Kontext von Jesaja 53, der griechischen Übersetzung (Septuaginta) und der Aufnahme dieses Verses im Neuen Testament (1.Petr 2,24) hervor. Und damit hat sich die „Gemeinschaft“ eigentlich erledigt, oder?

Ganz so einfach ist es nicht. Die hebräische Poesie – und ganz besonders das Buch Jesaja – liebt bewusste Doppeldeutigkeiten. Die Sprachkunst besteht darin, Dinge so zu formulieren, dass neben der Hauptbedeutung ein anderer Aspekt anklingt, der einen interessanten Nebenaspekt anklingen lässt. Genau das ist hier der Fall. Der Vers soll bewusst schillern, so ähnlich wie eine Muschel oder Perle, die je nach Licht Lichteinfall in einer anderen Farbe erscheint. Die Doppeldeutigkeit ist also Absicht – und genau das haben die jüdischen Gelehrten erkannt.

Vor diesem Hintergrund gibt es noch eine zweite Erklärung, weshalb in Jesaja 53,5 eine auf den ersten Blick so merkwürdige Einzahl der „Strieme“ vorkommt: Die Doppeldeutigkeit von „Strieme“ und „Gemeinschaft“ geht nur, wenn das Wort in der Einzahl steht! Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass diese Doppeldeutigkeit hier absichtlich angelegt ist. Sie weist auf ein tiefes Geheimnis hin: Gerade indem der Gottesknecht unseren Platz einnimmt, die Strieme, die ich für jede meiner Sünden verdient hätte, auf sich nimmt, schenkt er mir Heilung. Und so, genau auf diese Weise wird das Urteil aus dem ersten Kapitel des Buches Jesaja Wirklichkeit: Freispruch statt Verurteilung, Heilung statt Vernichtung.

Stolpern und Staunen

Wie so oft in der Bibel ist es also gerade eine Stelle, die auf den ersten Blick merkwürdig ist, die ungeahnte Schätze enthält. Man soll stolpern, um einen Schatz zu finden, den man sonst nicht entdeckt hätte. Wir schauen sonst nicht genau hin. Deshalb müssen wir manchmal mit dem Fuß hängen bleiben, damit wir die Schätze, die Gott uns in seinem Wort gegeben hat, nicht übersehen. Einer davon ist das Geheiminis der Strieme:

Die Sünde ist gravierend – so gravierend, dass kein Mensch sie tragen kann und anschließend am Leben bleiben kann. Sie erfordert eine grausame Strieme, die man mit der Lupe anschauen muss, um der Realität unserer Sünde ins Auge zu sehen. Doch die letzte, todbringende Strieme verpasst uns Gott nicht – sie trägt der Gottesknecht. In Wirklichkeit trägt er alle Striemen, weil die Einzahl betont, was er für jede unserer Sünden erduldet hat. Wenn über die Einzahl stolpere, mir Zeit nehme, um genau hinzuschauen, dann sehe ich meine Schuld und seine Rettung neu und größer. Denn genau das ist das Geheimnis der Strieme:

Durch seine Strieme ist uns Heilung geworden. (Jesaja 53,5)

Benjamin Lange
Benjamin Lange
Dr. Dr. Benjamin Lange hat Musik, Mathematik und Theologie studiert und in Mathematik und Theologie promoviert. Er arbeitet als Bibellehrer in Gemeinden und verschiedenen Bibelschulen. Außerdem ist er als Buchautor und in der Elberfelder Bibelkommission aktiv.

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