Wahr, richtig und wirklich – ist das wichtig?

 

„Wirklich wahr? Ja klar!“ – Wir hantieren selbstverständlich mit Begriffen wie „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“. Doch was meinen wir eigentlich damit? Und was sagt die Bibel dazu?

Richtig oder Falsch

Eine Klassenarbeit wird korrigiert, weil sie Fehler enthält. Sollen im Fach Erdkunde die Hauptstädte den Ländern zugeordnet werden, können sich auch mal Fehler einschleichen. Was richtig und falsch ist, ist ja nicht beliebig. Es misst sich an der Realität. Es entspricht zum Beispiel der Wirklichkeit, dass Berlin die Hauptstadt der BRD ist. Vor 30 Jahren war diese Aussage noch falsch. Ob eine Aussage wahr oder falsch ist, misst sich also an der Wirklichkeit – an dem, was tatsächlich der Fall ist. Und das kann sich natürlich ändern. Es ist deshalb wichtig zu fragen, was Wirklichkeit ist. Nur so kann man auch sagen, was wahr ist und was nicht, was richtig ist und was falsch. So einfach das klingt, so verschieden sind die heutigen Ansichten darüber, was Wirklichkeit und Wahrheit eigentlich ist. Was ist also Wirklichkeit und Wahrheit?

Die sichtbare Wirklichkeit

Die Wirklichkeit fassen wir zunächst mal als das auf, was uns umgibt: Die Welt, die wir mit unseren Sinnen erfahren, ist Teil der Wirklichkeit. Aber zur Wirklichkeit gehören auch Dinge, dir wir nicht mehr direkt durch unsere Sinne wahrnehmen können. Dazu gehören radioaktive Strahlen, Atome oder ultraviolettes Licht – kurzum: Alles, was der Wissenschaft mit ihren Messmethoden zugänglich ist. Die Wirklichkeit ist eben alles, was da ist. Die Inhalte von Träumen, Phantasien und Wunschvorstellungen gehören also nicht zur Wirklichkeit – es sei denn, sie finden sich in der realen Welt wieder.

Die unsichtbare Wirklichkeit

Nun könnte man denken, dass man sich nur auf seine Sinne und die Wissenschaft verlassen muss, um die Wirklichkeit zu erfassen. Umgekehrt könnte man ebenso denken, dass Wirklichkeit nur das ist, was man mit seinen Sinnen und den Mitteln der Wissenschaft erfassen kann. Beides stimmt nach der Bibel natürlich nicht. Auch wenn wir in einer technisierten Welt geneigt sind, uns auf die Ergebnisse der Wissenschaft zu verlassen, zeigt die Bibel, dass Wirklichkeit noch mehr umfasst: Es gibt hinter der sichtbaren und messbaren Wirklichkeit noch eine geistliche Wirklichkeit. Diese beinhaltet die Existenz Gottes, seine Handeln mit der Welt, außerdem Engel, Dämonen, Himmel und Hölle. Auch das ist da. Auch das, was dort geschieht ist real und ist deshalb Teil der Wirklichkeit. Mehr noch: Da die Welt und alles Geschaffene seinen Ursprung und Ziel in Gott hat (1.Korinther 8,6), ist die geistliche Wirklichkeit sogar der wichtigste Teil der Wirklichkeit, weil sich alles an ihr misst. Die Bibel zeigt an einigen Stellen deutlich, dass die Geschehnisse in der sichtbaren Welt von dem abhängen, was in der unsichtbaren Welt geschieht (z.B. Hiob 1,8-19; Jes 37,26; Daniel 10,20). Die unsichtbare Wirklichkeit ist also nicht nur ein vernachlässigbarer Teil der Wirklichkeit, sondern im Gegenteil: Mit ihr steht und fällt die sichtbare Wirklichkeit und das, was in ihr geschieht.

Hinter den Kulissen ist das Geschick der sichtbaren Welt also abhängig von einer geistlichen Welt, in der Gott handelt. Das beinhaltet auch, dass das Leben zuallererst nach einem geistlichen Prinzip funktioniert: Nur wer sich auf Gott ausrichtet, kann das Leben erfahren, das Gott sich mit der Welt vorgestellt hat. Nur wer sich an ihm orientiert, lebt in der größeren Wirklichkeit, die sich bis in die Ewigkeit erstreckt. Gläubige sind bereits in die Himmelswelt versetzt in Christus (Epheser 2,6). Sie sind in Gottes Augen bereits Teil der geistlichen und unsichtbaren Wirklichkeit, und sollen das in ihren Leben und Handeln miteinbeziehen. Und trotzdem geht dieser Teil der Wirklichkeit uns am schnellsten verloren – man sieht ihn eben nicht. Aber er ist da. Er ist real.

Wer die geistliche Realität nicht einkalkuliert, lebt daher eigentlich gar nicht in der Wirklichkeit. Er lebt im Grunde genommen in einer Scheinwelt: Er ignoriert den Rest der Wirklichkeit (die geistliche Realität) und macht sich so ein Bild von der Welt, dass es gar nicht gibt. Es ist ein Trugbild, das Gott und sein Handeln bewusst oder unbewusst ausklammert. Die sichtbare Wirklichkeit darf daher nicht von der geistlichen Wirklichkeit getrennt werden. Es ist deshalb wichtig, sich bei dem, was man als Wirklichkeit ansieht, zuallererst die geistliche Wirklichkeit bewusst zu machen. Denn an ihr misst sich, was wahr ist und was nicht, was richtig ist und was falsch, was Wahrheit ist und was Lüge.

Die Grundlage der Wahrheit

Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, was eigentlich Wahrheit ist. Nach der am weitesten verbreiteten Auffassung ist Wahrheit einfach das, was mit der Wirklichkeit übereinstimmt.[1] Das entspricht im Grunde genommen auch dem, was die Bibel über Wahrheit sagt. Sowohl nach dem Alten und Neuen Testament ist Wahrheit zunächst mal das, was mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Da die Wirklichkeit aber nach der Bibel auch die geistliche Wirklichkeit umfasst, misst sich Wahrheit im Gegensatz zur weitläufigen menschlichen Auffassung in der Bibel eben nicht nur an dem, was man sehen kann. Was wahr und falsch ist, misst sich ganz zentral an demjenigen, der Ursprung der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung ist: An Gott selbst. Deshalb wird Gottes Wesen und das, was er sagt, als Wahrheit bezeichnet (Psalm 86,11.15; 119,160; Joh 17,17). Und deshalb kann auch Jesus, der selbst wahrer Gott ist, sich selbst „die Wahrheit“ nennen (Johannes 14,6) und die Wahrheit bezeugen (Johannes 18,37). Damit wird schon deutlich, dass Wahrheit nach der Bibel breiter ist, als in der landläufigen Auffassung: Wahrheit hat nicht nur mit der Übereinstimmung zur Wirklichkeit zu tun, sondern auch (oder: gerade deshalb!) mit einer Person. Wahrheit definiert sich über das, was Gott ist und was er tut. Da sich Wahrheit an der Wirklichkeit misst und Gott Grundlage und Ziel der Wirklichkeit ist, muss sich Wahrheit zuallererst an Gott selbst messen.

Wahrheit in der Postmoderne

So absolut das klingen mag, so unverständlicher erscheint ein solcher Anspruch vielen Menschen heute. Gibt es nicht viele Wahrheiten? Bestimmt nicht jeder selbst, was für ihn wahr ist? Erfasst nicht jeder ein anderes Stück von der Wahrheit, das keiner sonst sieht? Ist es nicht deshalb am Schluss unnötig, über Wahrheit zu streiten, weil im Grunde jeder Recht hat? Diese und ähnliche Fragen sind Teil des postmodernen Denkens. Diese Entwicklung ist auch in den letzten Jahrzehnten deutlich sichtbar: Während man vor 20 oder 30 Jahren noch leidenschaftlich über Weltanschauungen diskutieren konnte, verläuft eine solche Diskussion heute schnell im Sand. Wozu diskutieren? Am Schluss definiert doch jeder seine eigene Wahrheit. Es gibt keine absolute Wahrheit – das ist das heutige Credo.[2] Doch das ist nicht haltbar. Man braucht nur zurückfragen, ob die Aussage „Es gibt keine absolute Wahrheit“ denn eine absolute Wahrheit sein soll oder nicht. Falls ja, dann gibt es eben doch eine absolute Wahrheit, an der sich alles misst. Falls nein, bestreitet die Aussage die Geltung absoluter Wahrheiten gar nicht. In beiden Fällen kommt auch der postmoderne Mensch damit nicht drum herum, an eine absolute Wahrheit zu glauben.

Wahrheit aus geistlicher Sicht

Das Problem ist also nicht, dass der postmoderne Mensch Wahrheit nicht mehr für absolut hält, sondern vielmehr, dass er sich an manchen Ansichten über die absolute Wahrheit stößt. Zum Beispiel daran, dass sich alleine an Gott misst, was Wahrheit ist und was nicht. Doch das war erst beim postmodernen Menschen so, sondern war in der gesamten Menschheitsgeschichte nie anders: Schon Adam fiel in Sünde, weil er der Lüge glaubt und nach einer Wahrheit (und einem Teil der Wirklichkeit) unabhängig von Gott. Schon Adam suchte und glaubte der Lüge. Auch Jesus wurde von den Menschen seiner abgelehnt, weil sie die Wahrheit scheuten (Johannes 3,19-21) und auch in der Zukunft werden Menschen lieber der Lüge als der Wahrheit glauben (2.Thessalonicher 2,9-11). Damit ist die Frage nach der Wahrheit also nach der Bibel nicht in erster Linie eine intellektuelle Frage. Das Bild vom Menschen, das die Bibel zeigt, ist bei weitem nicht so positiv, dass sie ihn als redlichen, aufrichtigen und wahrheitsliebenden Mensch auf der Suche nach der Wahrheit darstellt. Das Problem des sündigen Menschen ist vielmehr, dass er die Wahrheit gar nicht wirklich wissen will, weil sie gerade zur Aufgabe der eigenen Autonomie zwingt: Wer Gott als Grundlage jeder Wahrheit erkennt, muss seine eigenen Versuche, die Wahrheit für sich selbst zu definieren, aufgeben. Wer Gott als Grundlage jeder Wahrheit erkennt, muss sich ihm unterordnen und sich auf ihn ausrichten. Die Suche nach Wahrheit ist darum nicht so sehr ein intellektueller Akt, sondern eine Frage des Willens und der bedingungslosen und vertrauensvollen Selbstbindung an den, der selbst die Wahrheit ist: Jesus Christus.

Wahrheit bei Gott suchen und finden

Was macht man nun als Christ und Bibelleser in einer postmodernen Welt? Zunächst gilt es anzuerkennen, dass sich die Beschreibung der Wirklichkeit in der Bibel und die Sichtweise der Welt, in der wir täglich leben, unter der Oberfläche radikal unterscheiden. Nach der Bibel umfasst die Wirklichkeit zu aller erst die geistliche Realität. Das heißt ganz konkret: Wo man die geistliche Dimension der Welt aus den Augen verliert, verliert man zugleich den Blick auf die Wahrheit und nähert sich einer Sichtweise, die von Lüge (als bewusstes Ausklammern Gottes) geprägt ist. Und gerade deshalb ist es so wichtig, sich täglich neu bewusst zu machen, was eigentlich wahr und wirklich ist – und was nicht. Nur wenn ich meinen Blick täglich neu auf das ausrichte, was Gott in seinem Wort – das Wahrheit ist – sagt, bleibt mein Blick bei der Wahrheit. Was ich denke, stimmt dann mit der Wirklichkeit überein. Der Herr formuliert das in seiner Bitte an den Vater so: „Heilige sie in der Wahrheit! Dein Wort ist Wahrheit.“ (Johannes 17,17). Das geschieht durch den Glauben an ihn und sein Wort. Obwohl sich „Glaube“ und „Wahrheit“ vordergründig auszuschließen scheinen, ist damit gerade der Glaube der Schlüssel zur Wahrheit. Der Glaube kann erfassen, was die Augen nicht sehen. Er kann sich an den wenden und dauerhaft an den halten, der in sich selbst die Wahrheit ist.

  1. Sog. Korrespondenztheorie
  2. Sogar im eigentlichen Sinn des Wortes: Diese Ansicht hat häufig schon die Stellung eines Glaubenssatzes.

 

Zuerst erschienen in: Perspektive 01/2016, 32-34

 

Benjamin Lange
Benjamin Lange
Dr. Dr. Benjamin Lange hat Musik, Mathematik und Theologie studiert und in Mathematik und Theologie promoviert. Er arbeitet als Bibellehrer in Gemeinden und verschiedenen Bibelschulen. Außerdem ist er als Buchautor und in der Elberfelder Bibelkommission aktiv.

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